DS: In den Achtzigerjahren veröffentlichten Sie die Bücher „Die Gitarre. Ein Instrument und seine Geschichte“ (1980) und „Werkanalyse und Interpretation auf der Gitarre (1985)“, die damals zu den Standardwerken der Gitarrenliteratur zählten. Was war ihre Motivation? Wie würden sie die Schriften aus heutiger Sicht bewerten? Warum gab es seit der Erstveröffentlichung keine aktualisierten Neuauflagen?
Seit ich die erste Segovia-LP bekommen hatte, ich also von der Existenz eines Luys Milán, Alonso Mudarra, Fernando Sor oder Heítor Villa-Lobos erfuhr, wollte ich mehr wissen über diese Komponisten, über die Gitarre, ihre Musik und ihre Geschichte. Aber wir schrieben das Jahr 1962. Es gab kein Internet und in den normalen Lexika konnte man nur den groben Unsinn lesen, dass die Gitarre von der Laute abstammte und durch die Mauren nach Spanien gebracht worden war. Mitte der 1960er Jahre erfuhr ich, dass ein Fritz Buek in den 20er Jahren ein Buch geschrieben hatte: „Die Gitarre und ihre Meister“. Daraufhin schrieb ich an alle möglichen Verlage, ob denn dieses Buch verfügbar sei – der kleine Buchladen im Nachbarort konnte mir nicht weiterhelfen und Amazon gab es damals natürlich auch noch nicht. Eine Woche später erhielt ich dann vom Schott-Verlag ein Exemplar dieses Buchs aus dem Jahre 1926. Im Gitarrenseminar später im Studium haben wir dann durch Santiago Navascués ausführlicheres und fundierteres Wissen erhalten, auch wenn es damals noch leere Stellen auf der Landkarte der Gitarrengeschichte gab.
1979 sprach mich Herr Navascués an, ob ich interessiert wäre, ein Lehrbuch über die Geschichte der Gitarre zu schreiben, d. h. eigentlich wandte er sich an mich und meine Frau, da er nicht nur die reine Gitarrengeschichte verfasst, sondern sie eingebettet haben wollte in die allgemeine Geschichte. Dieser kulturgeschichtliche Teil, die linguistische Spurensuche, der Weg zum missing link in der Entwicklung der Vihuela und der Guitarra, wurde von meiner Frau verfasst, während ich für die musikalischen Teile des Buches verantwortlich bin. Ich zitiere aus dem Vorwort des Herausgebers Santiago Navascués: „Die Autoren haben es verstanden, Schnitt- und Wendepunkte historischer Epochen ins Licht zu rücken, Verbindungen zwischen Kulturen sichtbar zu machen, soweit sie die Evolution und das Umfeld der Gitarre berühren, so dass jeder … auf den Wegen dieser „Landkarte eines Instruments“ mit Vergnügen folgen wird, zumal auch die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Kunst und Künstlern mit besonderer Betonung der Gitarre und ihrer Musik in den jeweiligen historischen Epoche zur Sprache kommen.“
Das Buch ist natürlich nicht einfach so entstanden. Nachdem wir den Auftrag erhalten haben, waren erhebliche Vorarbeiten notwendig. So schrieb ich an die UNIVERSITY MICROFILMS INTERNATIONAL in Ann Arbor, Michigan, USA, wo alle amerikanischen Dissertationen gespeichert sind. Ich bestellte per Briefpost – es gab ja noch kein Internet und keine E-Mail – eine Liste aller Dissertationen zum Thema Gitarre, Vihuela, Barockgitarre, Corbetta, Santiago de Murcia, Sor, Giuliani etc. Zwei Wochen später erhielt ich dann eine lange Liste und ich suchte die wichtigsten Dissertationen aus, bestellte sie per Brief inkl. einem Bankscheck. Man kann sich vorstellen, dass das nicht ganz billig war. 3–4 Wochen später erreichten uns dann mehrere Sendungen mit all den Dissertationen, in Hard-Cover gebunden, darunter die herausragende Dissertation von John Milton Ward: „The Vihuela de mano and its Music (1536–1576)“ aus dem Jahr 1953 – für mich immer noch das Beste über dieses Thema, was es bis heute gibt, unübertroffen, grandios.
Zusätzlich hatten wir natürlich auch an verschiedene Bibliotheken im In- und Ausland geschrieben (Bayerische Staatsbibliothek, Bibliothèque national de France, British Library, New Public Library – um nur einige zu nennen), um dort Kopien von Fachartikeln zu bestellen, die sich mit der Gitarre und ihrer Geschichte, aber auch mit ganz speziellen Gitarrenthemen befassten wie z. B. die verschiedenen Schlagtechniken der Barockgitarre.
Und dann mussten wir uns natürlich auch um die Beschaffung von Bildmaterial kümmern. Wir schrieben an viele internationale Museen (u. a. Rijksmuseum Leiden, Nationalmuseum Athen, British Museum London, Biblioteca Nacional Madrid, New York Library, Biblioteca Medicea-Laurenziana, Florenz) und Bildarchive sowie Kunstverlage und bestellten Fotos von Gemälden, Skulpturen, Buchillustrationen etc., auf denen Gitarren oder gitarrenähnliche Instrumente zu sehen sind. Und baten natürlich um die Abdruckrechte, die sich die einzelnen Institutionen gut bezahlen ließen, die Amerikaner waren auch da die teuersten.
Und ich beschaffte mir bei Minkoff in Genf Facsimile-Ausgabe aller Vihuela-Bücher, einiger wichtiger Barockgitarren-Bücher wie Gaspar Sanz, sehr interessante Gitarrenschulen aus der Zeit der Übergangs von der Barockgitarre zur Gitarre der Klassik, also von der 5-chörigen guitarra espagnola bis zur 6-saitigen Gitarre eines Fernando Sor, u.v.a.m.
Darauf hieß es lesen, lesen, lesen und schreiben, ein ganzes Jahr lang. Und dann war das Werk getan. Das Buch „Die Gitarre. Ein Instrument und seine Geschichte“ hatte einen schönen Erfolg, erhielt sehr gute Kritiken, war es doch das erste Buch in deutscher Sprache über die Geschichte der Gitarre. Sogar die Musical Times schrieb im November 1982 eine sehr gute Rezension. Prof. Bashford, der ja ganz gut Deutsch sprach, war ebenfalls äußerst angetan von dem Buch, meinte, es sei „Much better than Turnbull“ und die übrigen Bücher über Gitarre aus dem englischsprachigen Raum. Er wollte es unbedingt übersetzen und auf den englischen Buchmarkt bringen. Leider wurde aus diesem schönen Plan nichts. Nach einem Zerwürfnis mit Santiago Navascués Anfang der 1980er Jahre war ein Gespräch nicht mehr möglich – und das ist es leider bis heute so geblieben. Von daher ist auch eine inzwischen notwendige überarbeitete und erweiterte Neuauflage natürlich kein Thema. Nachdem das Buch seit einigen Jahren vergriffen ist, hat uns der neue Verlagsinhaber – 1987 wurde aus dem 1969 gegründeten Verlag Biblioteca de la Guitarra der Verlag Edition Santiago Navascués – die Urheberrechte an dem Buch zurückgegeben.
Das Buch ist in vielen Kapiteln immer noch aktuell, diese bedürfen keiner bzw. kaum einer Überarbeitung. Andere Kapitel, vor allem jene, die sich mit den letzten 200 Jahren befassen, müssten stark überarbeitet und erweitert werden. Man weiß heutzutage einfach wesentlich mehr als damals im Jahre 1979. Da hat die Musikforschung in den letzten Jahrzehnten doch einige wichtige neue Erkenntnisse erbracht – vgl. z. B. die ganze Ponce-Weiss-Thematik und noch v. a. m. Ganz grundsätzlich müsste man das Buch auch einer anderen literarischen Ausrichtung gemäss verfassen. Herr Navascués hatte damals ja explizit ein „Lehrbuch“ bestellt (und bekommen). Eine Neuausgabe müsste dann als Sachbuch bzw. Fachbuch konzipiert werden. Es ist aber äußerst fraglich, ob ein Verlag heutzutage, im Zeitalter des Internets, wo man kostenlos fast jede Information finden kann, noch den Mut und die finanziellen Mittel hat, so ein Sachbuch zu veröffentlichen.
Mein zweites Buch, die Werkanalyse und Interpretation auf der Gitarre war meine eigene Idee, sie war die logische Konsequenz aus den Erfahrungen, die ich seit den 1980er Jahren als Lehrer gemacht habe. Ich hatte ja seit 1982 regelmäßig Gitarrenkurse bzw. Fortbildungskurse bei der Werkgemeinschaft Musik Düsseldorf abgehalten, später dann, ab 1986, auch Meisterkurse im Haus Marteau in Lichtenberg. Ein Erlebnis soll beispielhaft sein für viele derartige Erfahrungen.
Ein Gitarrist, Student an einer renommierten deutschen Musikhochschule, spielte mir das 4. Prélude von Villa-Lobos vor. Nachdem er es beendet hatte, fragte ich ihn, ob das sein Ernst sei. Er verstand nicht, was ich meinte und so wurde ich deutlicher. Das, was er soeben gespielt hatte, hatte nichts mit dem zu tun, was Villa-Lobos geschrieben hatte. Der Gitarrist hatte alle Angaben zur Dynamik, zum Tempo, alle Vortragszeichen missachtet und weder den Sinngehalt des Stücks noch seine musikalische Struktur verstanden. Ich machte ihn darauf aufmerksam, worauf er meinte, er würde das Stück halt so empfinden … Außerdem würden alle seine Gitarren-Kollegen an der Musikhochschule die Gitarrenstücke nach dem Schallplatten von Julian Bream einstudieren.
Nach mehreren derart albtraumhaften Erlebnissen ging mir die Idee nicht mehr aus dem Kopf, dass man zumindest versuchen sollte, diesen „verirrten“ Gitarristen einen Weg zu weisen und ihnen das nötige Handwerkszeug an die Hand zu geben, mit dessen Hilfe sie ein Gitarrenstück in seiner Gänze erfassen und dann auch adäquat umsetzen können.
Natürlich muss am Anfang immer die musikalische Analyse stehen, erst dann kann ich mir Gedanken machen, wie ich die Erkenntnisse der Analyse in einem Fingersatz umsetzen und damit eine dem Musikstück gemäße klangliche Darstellung auf der Gitarre geben kann. Also habe ich einige Analysebücher von klugen Professoren gelesen, aber wirklich schlauer wurde ich aus ihnen nicht. Diese Analysen funktionierten nur deshalb, weil ihr Autor das betreffende Musikstück bereits kannte und „voranalysiert“ hatte. Er hat also nur das beschrieben, was er ohnehin bereits wusste. Mir aber war daran gelegen, ein Analysesystem zu entwickeln, mit dem man ein Musikstück, das man nicht kannte und von dem man nichts wusste, peu à peu verstehen und so seine Architektur begreifen konnte.
Ich wandte mich an den Verlag Heinrichshofens, dessen „Musikpädagogische Bibliothek“ mir als die am besten geeignete Buchreihe für mein geplantes Buch erschien. Ich konnte den Verleger nach anfänglicher Skepsis überzeugen und erhielt Grünes Licht.
Das von mir gesuchte Analysemodell lieh ich mir vom Strukturalismus aus, den ich in der Uni München kennen gelernt hatte und den meine Frau systematisch studiert hatte. Es war nicht einfach, literarische Strukturen umzudenken in musikalische Strukturen, aber letztendlich funktionierte es – und zwar sehr gut. So entstand ein strukturalistisches Analysemodell, mit dem man jegliches musikalisches Werk „knacken“ kann – und zwar ohne Vorkenntnisse. Nun galt es die gewonnenen Erkenntnisse in einem Fingersatz umzusetzen, mit dem man das Musikstück adäquat interpretieren konnte. Das war jedoch nicht das große Problem. Meine Fingersätze waren immer auf diese Weise entstanden, auf der Basis analytischer Erkenntnisse – „wie soll das Stück klingen?“ – nichts anderes hatten wir auch bei Navascués gelernt. Hinzu kamen aber nun aufführungspraktische Fragen – dafür hatte mich Nikolaus Harnoncourt in seinen Kursen und Seminaren Anfang der 1980er Jahre sensibilisiert – und eine Menge zusätzliches Wissen, das während meines Studiums nicht zur Sprache gekommen war.
Als das Manuskript fertig war, musste ich es dem Herausgeber Professor Kolneder vorlegen, der es für gut befand, aber aufgrund der vielen fremden Begriffe und Fremdworte auf einem Glossar bestand. Das war natürlich kein Problem und so konnte das Buch erscheinen. Ich erhielt sehr gute Rezensionen, wurde zu Gastvorträgen eingeladen.
Ich halte mein Buch auch heute noch für absolut aktuell, ob es aber jemals eine Neuauflage geben wird, kann ich nicht sagen. Leider ist die Kommunikation mit dem Verlag und dem Verleger äußerst schwierig bis unmöglich. Seit dem Erscheinen des Buches im Jahr 1985 habe ich jedes Jahr meine Tantiemen per Anwalt einfordern müssen, freiwillig kam da nichts, trotz eines gültigen Vertrags. Nach ein paar Jahren habe ich es dann gelassen, die Anwaltskosten waren höher als die Tantiemen. Ich weiß auch nicht, wie viele Exemplare noch auf Lager sind oder ob das Buch bereits vergriffen ist. Zwei Autorenkollegen erzählten mir auf Nachfrage, dass es bei Ihnen auch so gehandhabt wird. Angesichts dieser Situation käme für mich natürlich eine Neuauflage in diesem Verlag ohnehin nicht in Frage.
DS: Seit den 1980er Jahren haben sich Spielniveau und Repertoire der klassischen Gitarre rasant entwickelt. Wie haben sie diese Entwicklung empfunden?
Ich denke, man kann diese Frage nicht isoliert beantworten, man muss sie vor dem Hintergrund der Entwicklung der klassischen Musik an sich in den letzten 35 Jahre betrachten. Sie sprechen sehr zutreffend von einer „rasanten“ Entwicklung. Das Tempo des Musizierens hat sich in diesen Jahrzehnten völlig verändert, man spielt heutzutage alles wesentlich schneller als noch vor 30 Jahren – egal welche Epoche, egal welche musikalische Gattung . Besonders einige auf Alte Musik spezialisierten Ensembles und Orchester haben sich eine Hochgeschwindigkeits-Spielweise angewöhnt, die ich nicht mehr nachvollziehen kann. Die meist wahnwitzigen, atemlosen Tempi, mit denen diese Solisten und ihr Orchester die verschiedensten Kompositionen durchrasen, scheinen nur ein Ziel zu haben und einen Zweck zu erfüllen: bei sich selbst (vor allem), aber auch beim Publikum ein Höchstmaß an Adrenalinausstoß zu bewirken. Natürlich beweisen solche Aufführungen, dass diese Ausführenden ausgezeichnete MusikerInnen sind, gar keine Frage. Und natürlich jubeln die Rezensenten in den Feuilletons und immer wieder kann man lesen, dass der betreffende Rezensent ein „aufregendes Konzerterlebnis“ hatte – aufregend, ja erregend und vor allem neu und unerhört. Wie es scheint, brauchen diese Konzertbesucher diesen erwarteten und erwünschten Adrenalinausstoß, um irgendetwas zu spüren. Musikalisches Base-Jumping …
Aber ich frage mich, was hat das mit Musik zu tun? Ist das wirklich der Sinn von Musik, dass sie einen aufregt, ja erregt, die eigene Sucht nach Adrenalin befriedigt? Ich meine nein, solche Hochgeschwindigkeitsorgien, Zirkuskunststückchen nicht unähnlich, haben m. E. nichts Musik zu tun, solche Aufführung gehen am Sinn und Wert der Musik vorüber. Sergiu Celibidache meinte sogar, dass in solchen Konzerten zu keinem Zeitpunkt Musik entstanden ist. Musik sei nicht nur schön, sagte er immer wieder, sie sei vor allem wahr.
Vor diesem Hintergrund ist auch die Entwicklung von Spielniveau und Repertoire der klassischen Gitarre zu sehen. Anfang der 1980er Jahre wurde auch auf der Gitarre das Hochgeschwindigkeitsspiel zum alleinigen Qualitätsmerkmal erhoben. Dass bei solch einer Spielweise zahlreiche Töne verloren gingen, störte in der allgemeinen Euphorie offenbar niemanden. Kleiner Exkurs von mir: man höre sich einmal die frühen Schallplattenaufnahmen von Andrés Segovia und Miguel Llobet an – die konnten das damals auch schon, aber klanglich und musikalisch besser – und sauberer. Ich habe Konzerte gehört, da habe ich mich schon gefragt, ob das alles ernst gemeint ist, so unsauber, mit so vielen falschen Tönen zu spielen, aber das war der Preis für die Geschwindigkeit.
Und weil das Thema „Tempo“ hier extrem wichtig ist, erlauben Sie mir einen kleinen Exkurs, denn meiner Meinung wird dieser Begriff sehr oft missverstanden. Der Begriff „Tempo“ ist keine feste Größe, sondern die Bedingung, um den ganzen Klangreichtum eines Musikstücks hörbar und erlebbar macht. Das Tempo ist dabei von vielen verschiedenen Faktoren abhängig: von den akustischen Gegebenheiten des Raumes, von der Komplexität des Tonsatzes, vor allem aber auch von den klanglichen Möglichkeiten und der Ausdrucksvielfalt, die ein Musiker zur Verfügung hat. Daher verlangt ein größerer Klangreichreichtum logischerweise bei der Aufführung ein langsameres Tempo und geringere klangliche Möglichkeiten eine schnellere Darbietung. Was aber bedeutet, je differenzierter ein Musiker zu spielen in der Lage ist, je reicher er also artikulieren und phrasieren kann („artikulieren heißt vermenschlichen“ – Sergiu Celibidache), umso langsamer wird er spielen müssen. Andererseits heißt das, je weniger ein Musiker artikuliert – wie das bei leider bei den GitarristenInnen oft der Fall ist, dass sie kaum bzw. überhaupt nicht artikulieren – umso schneller müssen sie spielen und umso flacher wird die musikalische Darbietung.
Aber der Zeitgeist hat seine eigenen Gesetze. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte sich diese Art des Gitarrenspiels weltweit bei fast allen Gitarristen durchgesetzt. Diese globalisierte Spielweise der Gitarristen führte logischerweise zu einer interpretatorischen Einförmigkeit, irgendwie klang und klingt alles gleich – atemlos hetzen seitdem die Gitarristen durch ihre Programme. Und so wurde es langsam ein wenig eintönig, ehrlich gesagt. Heute haben wir die Situation, dass es eigentlich ziemlich egal ist, welchen Gitarristen bzw. Gitarristin man sich in einem Konzert anhört: eigentlich klingt alles gleich, egal, wer spielt. Jede Musik jeder Epoche, jeder Gattung – alles wird im Hochgeschwindigkeitstempo dem Zuhörer vor die Füße geworfen. Klanglich ist das alles oftmals fragwürdig, wird doch die Klangschönheit meist der Geschwindigkeit geopfert. So muss ich sagen, ich höre einen Gitarristen oder eine Gitarristin und nach knapp 10 Minuten bin ich gelangweilt ohne Ende. So haben wir als logische Konsequenz die Situation, dass wir heutzutage zwar so viele Gitarristen weltweit haben, wie noch nie, dass aber die Anzahl der Gitarrenkonzerte merklich immer weniger wird. Wenn ich mir die Jahresprogramme der großen Konzertagenturen ansehe, finde ich so gut wie keine Gitarrenkonzerte mehr. Einzig Pepe Romero tourt alljährlich durch Deutschland – aber sonst? Gitarrenkonzerte finden heute eigentlich nur noch in speziellen Gitarrenfestivals statt, die einige Gitarristen in kleinen und mittleren Städten veranstalten. Da sind die Gitarristen unter sich, ich nenne sie Inzucht-Festivals, wo man sich selbst bejubelt. Die Programme solcher Festivals beinhalten denn auch die allseits beliebten Cross-Over-Konzerte, Gitarrenmusik aller Stilrichtungen werden vorgestellt und wenn man Glück hat, gibt es ein Konzert mit ausschließlich sog. klassischer Gitarrenmusik.
Ich finde das eine traurige Situation der Verarmung und einem so wunderbaren Instrument wie der Gitarre unangemessen. Wofür hatten wir uns alle Jahre lang bemüht, die Gitarre als seriöses Musikinstrument in der allgemeinen klassischen Musik zu etablieren? Ich befürchte, dass die klassische Gitarre wieder zurückfallen wird in ihr Nischendasein. Wenn ich mich an die 1960er und 70er erinnere: da kam jedes Jahr Andrés Segovia einmal nach München, ebenso Julian Bream, sowie John Williams alle 2-3 Jahre, Pepe Romero und Narciso Yepes auch einmal im Jahr, Konrad Ragossnig trat ebenfalls regelmäßig auf. Und heute? Wie viele Gitarrenkonzerte gibt es im Jahr z. B. im Herkulessaal der Münchner Residenz oder im Prinzregententheater?
Und wenn wir noch weiter zurückgehen in die Vergangenheit, werden wir feststellen, dass wir eine lebendige Gitarrenkultur besonders in München aber auch in ganz Deutschland hatten. Ich lese gerade die zahlreichen Artikel in den Publikationen der „Gitarristischen Vereinigung e. V. – Sitz in München“ und der „Freie Vereinigung zur Förderung guter Guitaremusik e. V. – Sitz in Augsburg“. Das waren Publikationen aus der Zeit vom Anfang des 20. Jahrhunderts (1900-1931). In der Ausgabe der Zeitschrift Der Gitarrefreund vom Juni 1921 lese ich auf 4 ½ Seiten den „Epilog zu den Llobet-Konzerten“, in dem der Autor Fritz Buek Berichte aus Tageszeitungen („Presseurteile“) aus ganz Deutschland zitiert, in denen ausführlich über die Konzerte von Miguel Llobet berichtet wird. Wir wissen ja, dass Llobet immer wieder gerne in Deutschland konzertierte, genoss er hier doch allergrößte Hochachtung und besonders in München fühlte er sich sehr wohl.
Das Gitarren-Repertoire hat sich in den vergangenen 35 Jahren erfreulicherweise recht verändert. Da tauchen nun unbekannte Werke bislang wenig beachteter Komponisten auf, die durchaus ein Gewinn sind. Die Musikwissenschaft hat da wirklich gute Arbeit geleistet und viele musikalische Schätze dem Vergessen entrissen. Neue und neueste Kompositionen bereichern zusätzlich das Repertoire. Ob sich alle diese Werke im Repertoire der GitarristenInnen einen dauerhaften Platz werden erobern können, kann ich natürlich nicht sagen. Nichts ist sicher, alles ist möglich.