DS: Sie haben im Lauf der Jahrzehnte viele Noteneditionen betreut. Zuletzt erschien eine Rekonstruktion des Prélude „Silvius Leopold Weiss“, das aber eigentlich von dem mexikanischen Komponisten Manuel M. Ponce (1882-1948) stammt. Welche Bedeutung hat Ponce für die Gitarrenmusik des 20. Jahrhunderts und warum ist dieses eine Prélude so besonders?
Das Prélude „Silvius Leopold Weiss“ hat mich sofort fasziniert, als ich es zum ersten Mal auf einer Schallplatte von Andrés Segovia hörte, da war ich 12 Jahre alt. Ein außergewöhnliches Musikstück mit einer außergewöhnlichen Geschichte! Es ist einfach eine sehr gute Komposition, wie ich bei meiner detaillierten musikalischen Analyse festgestellt habe. Hier ist leider nicht der Platz, um eine ausführliche Analyse vorzustellen, deshalb nur kurz das Wichtigste: Ponce komponierte sein Prélude als Ritornell, eine musikalischen Form, die seit Mitte des 17. Jahrhunderts vor allem in den schnellen Ecksätzen der meisten Instrumentalkonzerte auftaucht. Er verwendete für sein Prélude die Kompositionstechnik des sog. linearen Kontrapunkts, so wie sie Johann Sebastian Bach vor allem in seinen Solosonaten und -suiten für Violine bzw. Violoncello verwendet hat. Diese Polyphonie der einstimmigen Linie – die Andeutung von Mehrstimmigkeit in einer einzelnen Linie, eine Art scheinpolyphoner Technik, die Andeutung von Harmonie-Bassstimmen und von Orgelpunktstimmen, das Entwickeln und Abklingen der Scheinstimmen sowie das Ineinanderwirken von Scheinstimmen und Realstimmen – all diese Techniken muss Ponce gekannt haben. Nur so erklärt sich, wie souverän er in seinem Stück mit dieser Kompositionstechnik umging. Wer mehr über das Stück wissen möchte, dem empfehle ich auf meiner Homepage meinen Essay Das Prélude „Silvius Leopold Weiss“ von Manuel María Ponce – Hintergründe zur Entstehungsgeschichte, Rekonstruktion und Analysen.
Manuel Ponce gehört zu den Komponisten, deren Name natürlich untrennbar mit Andrés Segovia verbunden ist und bleiben wird. Eines von Segovias großen Verdiensten war es ja, dass er Komponisten, die nicht auch gleichzeitig Gitarristen waren, überredet und angeregt hat, für ihn und die Gitarre neue Werke zu komponieren. Neben Manuel Ponce sind das u. a. Mario Castelnuovo-Tedesco, Federico Moreno Torroba, Joaquìn Turina, Alexander Tansman, Joaquín Rodrigo, Federico Mompou und natürlich Heítor Villa-Lobos – um nur die Wichtigsten zu nennen. Sie alle gehören zur Geschichte der Gitarre im 20. Jahrhundert. Segovia hat aber gerade Ponces Werke besonders geschätzt und sie den meisten Werken anderer Komponisten vorgezogen. So wurden diese Gitarrenwerke fester Bestandteil des Gitarrenrepertoires im 20. Jahrhundert.
Ich habe aber den Eindruck, dass nicht alle Werke Ponces im Standardrepertoire der heutigen Gitarrengeneration verbleiben werden, denn nicht alle Werke sind von höchster musikalischer Qualität. Gerade in den mehrsätzigen Sonaten oder Suiten finden sich neben großartigen Sätzen wiederum andere, die diese Qualität nicht erreichen. Ich denke da z. B. an seine Suite Antigua, die Ponce und Segovia als Werk von Alessandro Scarlatti „zur Welt brachten“. In dieser Suite gibt es das Stück Gavotte I und II, das eine wirklich großartige musikalische Erfindung ist und das alle anderen Sätze in ihrer Qualität überragt. Auch sein Gitarrenkonzert tut sich schwer, gegen die Konkurrenten zu bestehen: Rodrigos zwei populäre Konzerte (Aranjuez und Fantasía) oder Villa-Lobos’ Concerto, auch das 1. Gitarrenkonzert von Castelnuovo-Tedesco werden häufiger aufgeführt als das Konzert von Ponce.
Wenn ich eine Liste erstellen müsste von den Werken, die m. E. „überleben“ werden, würde ich folgende Kompositionen auswählen: Thème varié et Finale, Variationen über ein Thema von Cabezón, Sonata I (Sonata mexicana), Sonata III, die Folía-Variationen (allerdings in einer strikten Auswahl) und von den „Weiss“-Kompositionen natürlich das Prélude, das kleine feine Ballet und die Suite in a-moll. Und natürlich nicht zu vergessen Ponces großartige Instrumentalsätze von mexikanischen Volksliedern: Valentina, Estrellita, Cuiden su vida, Pajarera, Por ti mi corazón. Das sind wunderschöne Gitarrestücke, die die klanglichen Möglichkeiten unseres Instruments großartig ausloten.
DS: Welche Quellen haben sie für die Rekonstruktion des „Préludes“ verwendet? Wie haben sie sich Einblick in das Autograph der Duo-Fassung verschafft? Wie kann man sich den Prozess einer solchen Rekonstruktion vorstellen und wie lange haben sie dafür gebraucht?
Natürlich stand die Schallplattenaufnahme des Stücks am Anfang, es gelang mir, Teile des Stücks zu transkribieren, obwohl Segovia das Stück in einem rasend schnellen Tempo spielt. Wichtigste Quelle aber war natürlich die Duo-Fassung für Gitarre und Cembalo. 1985 hatte die mexikanische Gitarristin Corazón Otero – die Urheberrechte aller Gitarrenkompositionen Ponces lagen bis 2019 bei ihr (auch wenn sie bereits 2013 gestorben war) – in ihrem Eigenverlag Ediciones Musicales Yolotl die Duo-Fassung in einer kleinen Auflage herausgebracht. Es war mir gelungen, ein Exemplar dieser Notenausgabe zu bekommen. Und ich war etwas enttäuscht, denn die Gitarrestimme war in vielen Stellen überhaupt nicht identisch mit der von Segovia gespielten Version. So konnte ich gar nicht glauben, dass das der Urtext der Duo-Fassung sein sollte. 2009 habe ich dann ein Facsimile des Autographs bekommen und musste feststellen, dass die Otero-Ausgabe genau dem Autograph entspricht.
Die Rekonstruktion zog sich über einen längeren Zeitraum hin – sicherlich 3 – 4 Jahre. Ich erstellte sicherlich 8–9 verschiedene Fassungen, ließ sie liegen, um sie mir nach einiger Zeit erneut, mit frischem Blick, vorzunehmen. Dabei waren mir auch Bachs eigene Bearbeitungen seiner Solosuiten und -sonaten für Violine bzw. Violoncello richtungsweisend. Der Blick darauf erschien mir sinnvoll, denn Ponce verwendete, wie bereits gesagt, die Kompositionstechnik des sog. linearen Kontrapunkts, so wie sie Johann Sebastian Bach und auch Silvius Leopold Weiss in ihren Suiten und Sonaten verwendet hatte. Ponce legte allerdings die musikalische Struktur seines Stücks wesentlich einfacher an als Bach. Von daher kommt sein neo-barocker Kompositionsstil sehr nahe an die Weiss’sche Werke und deren musikalische Schreibweise heran, was vermutlich auch das Ergebnis sorgfältiger Studien von Weiss-Stücken sein dürfte, die Segovia dem Freund zum Studium übergeben hatte.
Da die rhythmisch-melodische Struktur des Préludes durch Ponces einstimmige Notation in seinem Autograph der Duo-Fassung nicht deutlich wird, erschien es mir ¬ratsam, das Stück in einigen Takten exemplarisch dreistimmig zu notieren, obwohl mir bewusst ist, dass eine derartige Festlegung des Stimmverlaufs problematisch sein kann. Dennoch kann nur so die komplexe rhythmisch-melodische Struktur, z. B. die Gleichzeitigkeit von 3/4 Takt und 6/8 Takt (Konfliktrhythmus) verdeutlicht werden.
Einzelne Basstöne habe ich dort ergänzt, wo Ponce sie in seiner Duofassung in der Cembalostimme notiert hat und wo sie mir wichtig und nötig erschienen. Die Tondauerwerte der Basstöne sind ebenfalls teilweise an die von Ponce in seiner Duo-Fassung angegebenen angeglichen worden. Durch diese zusätzlichen Basstöne wird die interessante harmonische Entwicklung des Stücks verdeutlicht und darüber hinaus diesem das notwendige klangliche harmonische Fundament gegeben.
Den letzten Ausschlag für die endgültige Fassung war am Ende aber die Spielbarkeit auf der Gitarre und wie und ob das Stück gut klingt, ob es ein richtiges Gitarrenstück wurde. Ich weiß nicht, ich glaube ich habe das Stück in dieser Zeit gut tausendmal gespielt.
DS: Gibt es noch weitere Kompositionen die Ponce nachträglich zugeordnet werden können? Sind weitere Rekonstruktionen geplant? Was für Veröffentlichungen stehen als nächstes an?
Ja, natürlich. Es gibt einige sehr gute Kompositionen, die Silvius Leopold Weiss und Alessandro Scarlatti zugeschrieben wurden, aber von Manuel Ponce komponiert wurden. Das Prélude war ja nicht das einzige Werk, das unter dem Namen Silvius Leopold Weiss bekannt und als solches von Segovia gespielt wurde: Das kleine, überaus reizvolle Stück Ballet stand ebenfalls als Werk von S. L. Weiss auf Segovias Konzertprogrammen, häufig in Kombination mit dem Prélude. Zu den bekanntesten und erfolgreichsten Werken Ponces überhaupt zählen wir die „Suite in a-moll“ (1929) mit den Sätzen Preludio, Allemande, Sarabande, Gavotte und Gigue, die ebenfalls als Werk von S. L. Weiss bekannt wurde. Und die sehr bekannte und erfolgreiche „Suite Antigua in D“ (Preambule, Courante, Sarabande, Gavotte I und II, Gigue) wurde Alessandro Scarlatti zugeschrieben.
Ballet (Balletto) wurde von Corazón Otero 1987 in ihrem kleinen Eigenverlag Ediciones Musicales Yolotl verlegt – als Werk von Manuel Ponce. Da das Autograph seit dem Spanischen Bürgerkrieg verschollen ist, hat sie vermutlich eine Transkription von der Schallplatte gemacht. 1983 veröffentlichte sie im französischen Verlag Éditions Musicales Transatlantiques die sehr bekannte „Weiss“-Suite in a-moll, als Komposition von Manuel Ponce. Im Vorwort schreibt sie, dass der spanische Gitarrist José Luis Gonzalez den Fingersatz direkt von der Originalkopie übernommen habe, die ihm Segovia überlassen hatte. Und die Suite Antigua in D, die wie erwähnt, als Werk von Alessandro Scarlatti bekannt wurde, erschien bereits 1967 bei Peer International Corporation in New York und Ponce firmiert hier als Komponist. Pikanterweise existierten gleichzeitig Editionen mit den beiden Sätzen Gavotte I und II aus dieser Suite unter dem Namen S. L. Weiss. Ich denke nicht, dass noch weitere Rekonstruktionen notwendig sind, auch wenn mir in den genannten Notenausgaben die eine oder andere Stelle oder der eine oder andere Takt fragwürdig erscheinen.
Ob es weitere Veröffentlichungen von mir geben wird, kann ich Ihnen noch nicht sagen. Natürlich habe ich 2–3 Ideen, die ich noch gerne verwirklichen würde. Aber Sie wissen ja, dass das Leben einem sehr oft einen Strich durch die Rechnung machen kann. Denn wie heißt es in einem jüdischen Sprichwort: „Du willst Gott zum Lachen bringen? – Mach’ einen Plan“.
DS: Herr Klier, herzlichen Dank für dieses Interview.