Dieter Kreidler ist ein altgedienter deutscher Gitarrist und Gitarrenpädagoge. 1976 erschien seine zweibändige Gitarrenschule (2010 überarbeitet), die in den 80er und 90er Jahren zu den Standardwerken der deutschsprachigen Gitarrenliteratur zählte. Er veröffentlichte etliche Bearbeitungen für Solo-Gitarre, darunter „Beatles-Songs“ und „Ragtime“. Nun hat er das Heft „Workshop Fingerstyle Guitar“ mit 24 neuen Kompositionen veröffentlicht, das Solostücke, Duos und Warm Ups umfasst.
Gleich in der Einleitung (engl./dt.) erklärt der Autor sein Verständnis von „Fingerstyle“, eine amerikanische Bezeichnung für die Spielweise mit den einzelnen Fingern der Zupfhand, im Gegensatz zum sog. „Flatpicking“, dem Spiel mit einem Plektrum gehalten zwischen Daumen und Zeigefinger. Kreidler leitet die Spielweise her von der Übertragung von Ragtimes auf die Gitarre und führt die Entwicklung vom amerikanischen Folkrevival der 1960 über Leo Kottke, Mark Knopfler bis zu Tommy Emmanuel, auch die deutschen Fingerpicker Peter Bursch, Werner Lämmerhirt und Peter Finger werden erwähnt. Kaum oder gar nicht benannt werden in diesem Abriss erstaunlicherweise Merle Travis (Travispicking), Chet Atkins (!), Jerry Reed (Clawing) oder Doc Watson (American Folk), die allesamt wirklich bahnbrechende Beiträge zu Spielweise und Repertoire des Fingerstyle geleistet haben. Atkins, der wohl einflussreichste Fingerpicker des 20. Jahrhunderts, der jahrzehntelang als Komponist, Arrangeur und Produzent wirkte (z.B. für Elvis Presley) und viele populäre Hits hatte („Mister Sandman“), wird zwar erwähnt, aber falsch geschrieben (Chat). Diese eigenwillige Gewichtung verwundert erst einmal.
Im weiteren Verlauf geht es dann folgerichtig leider gar nicht um die reichhaltigen Ausprägungen der Fingerstyle-Traditionen, um Repertoire, Spielweisen oder Personalstile, sondern viel mehr um die individuelle Auslegung des Autors. Er legt 24 namenlose, eigene Studien vor, die als Kompositionen bezeichnet werden. Sie bieten durchgehende Wechselbässe und oftmals synkopische Melodien, in verschiedenen, teilweise für Gitarristen ungewöhnlichen Tonarten, hin und wieder mit fast generalbassartigen Bassläufen, Spiel auch in höheren Lagen, zum Teil ungewöhnlichen Griffen und Spielpositionen. Es handelt sich dabei um innovative, schlüssige und eigenständige Stücke, die aber lediglich Studiencharakter haben, es sind keine konzertanten Stücke dabei. Meist umfassen sie um die 16-24 Takte. Das Wort „Workshop“ im Hefttitel ist irreführend, weil die 24 Miniaturen keinen tieferen pädagogischen Sinn haben und auch kein methodischer Aufbau erkennbar ist. Für den Unterricht leider nicht gut zu verwenden. Anfangs werden wahllos ein paar zusammenhangslose Begleitpatterns präsentiert, in der Mitte des Heftes eine wilde Auswahl von gebrochenen Akkordfragmenten (4-taktig) gezeigt. Es bleibt unklar, was man damit anfangen soll. Die anschließenden Duos haben nicht sonderlich viel mit der Idee des Fingerstyle zu tun, denn hier wurden schlicht Melodie und Wechselbass in zwei Stimmen aufgeteilt und es ist ja der eigentliche Clou beim Fingerstyle, dass alles zusammen von einem Spieler auf einem Instrument gespielt wird. So wie es da steht, könnten es auch zwei Gitarristen jeweils mit Plektrum spielen.
Notiert wurde in Noten und Tabulatur, Tabs leider ohne Notenhälse (warum?), deswegen ohne Noten unbrauchbar, Fingersätze sind korrekt, präzise und hilfreich. Das Heft beinhaltet einige s/w-Fotos von den beiden allgemein unbekannten Gitarristen, die das Audio-Material eingespielt haben.
An wen richtet sich dieser Workshop bzw. dieses Heft? Ja, das ist die Frage. Für Anfänger oder Einsteiger in das Thema sind die Stücke zu unsortiert und anspruchsvoll, weil nicht herangeleitet wird, sondern viel vorausgesetzt wird. Die allermeisten Spieler beginnen Fingerstyle mit einfachen Patternbegleitungen zu Akkordfolgen und Songs, dann kommen Wechselbass, Bassläufe und Akkordverzierungen dazu, dieser wichtige Schritt wird hier komplett Übersprungen. Schade ist auch, dass gar keine bekannten oder vertrauten Songs oder Melodien verarbeitet werden, die ganze präsentierte Musik ist dem Spieler somit erstmal fremd und es wird so zur bloßen technischen Übung. Für’s Üben sind sie in Ordnung, aber für Vorspiele oder Konzerte haben sie zu wenig Substanz, sind zu kurz, bieten zu wenig inhaltlichen Anschluss. Außerdem wird gar nicht an verschiedene stilistische Ausprägungen herangeführt, sondern ausschließlich der ureigene Spiel- und Arrangementstil des Autors gepflegt und so versatil ist leider niemand, dass er als Einzelperson mal eben so die vielseitigen Innovationen von mehr als 100 Jahren musikalischer Stilgeschichte in ein paar Kompositionen packen kann. Man muss sich als Spieler also voll und ganz auf die Kreidler-Variante des Fingerstyle einlassen, eine derartige Monokultur ist aber eigentlich niemandem zu empfehlen. Da sind bereits existierende Anleitungen und Stückesammlungen interessanter: der erwähnte Peter Bursch oder auch die uralte Serie „Folkpicking für Fingerstyle Guitar“ von Sigi Schwab, es gibt aber noch etliche weitere.
Es steckt vermutlich viel kompositorische und editorische Arbeit in dem Heft, das ist aller Ehren wert, nur schade, dass es am Ende nicht nutzbarer für die breite Masse der Fingerstyle-Interessierten ausgefallen ist. So wie es ist, ist es weder eine gut aufgebaute Schule, noch eine variable Stückekompilation, eher eine Etüdensammlung, aber Fingerpicker spielen eben am liebsten populäre Stücke ihrer Idole, von denen sie begeistert sind, keine unbekannten Kompositionsstudien in unangenhmen Tonarten. Das Heft ist somit eine echte Nieschenpublikation für einen sehr engen Kreis. Dass Kreidler arrangieren kann, hat er schon oft genug erfolgreich bewiesen. Hier hätte mit weniger Aufwand, aber klarerem Konzept mehr drin sein können.
Das Notenheft umfasst 24 Miniaturen für Gitarre Solo und Duo, ein Traditional („When the Saints“) und ein zusätzliches Online-Arrangement („Bruder Jakob“) auf 80 Seiten. Es erscheint bei Schott und kostet 26 €.