Buch: „How Music got free“ von Stephen Witt

Stephen Witt ist amerikanischer Journalist und hat im Sommer 2015 mit “How Music got free“ sein erstes umfangreiches Sachbuch veröffentlicht. Kurz darauf erschien das Buch mit gleichnamigem Titel in deutscher Übersetzung, ein darauf Jahr nun die englischsprachige Taschenbuchausgabe. Das Buch trägt den Untertitel „A Story of Obsession and Invention“ und Witt beschreibt darin detailliert und sachkundig den revolutionären Wandel den Digitalisierung, MP3-Format und die Möglichkeiten des Internets auf die globale Musikindustrie und letztlich die ganze Gesellschaft hatten.

Witt erklärt bereits in der Einleitung, dass er diese aufregenden Zeiten des medialen Wandels als junger Student und aktiver Filesharer selbst miterlebt hat. Jahre später hat er sich dann für die Protagonisten und deren Motivation interessiert und ist dem in intensiver und nicht immer einfacher Recherche nachgegangen. Er hat die spannende Erzählung auf verschiedene Blickwinkel verteilt um die Geschehnisse greifbarer zu machen. Zentrale Handlungsstränge sind die Geschichten der Figuren Karlheinz Brandenburg (Forscher am Erlanger Fraunhofer Institut und Entwickler des MP3-Formats), Bennie Lydell Glover (Mitarbeiter eines amerikanischen CD-Presswerks, aktiver Leaker und Filesharer) und Doug Morris (CEO diverser globaler Medienkonglomerate), dazu kommen passagenweise weitere Akteure wie Shawn Fanning (Napster), Alan Ellis (Oink) u.a.

Die Erzählung beginnt mit der Entwicklung des MP3-Formats und der langwierigen Entfaltung ihrer Wirkungskraft. Es werden die Umstände in damaligen Presswerken und das etablierte Geschäftsmodell der Musikindustrie beschrieben. Selbstverständlich spielen auch die ersten Sharingplattformen und herausragende Leaks eine tragende Rolle. Witt ist bestens informiert und schreibt kenntnisreich und eloquent. Es gelingt ihm auch trockene Materien, z.B. Laborversuche, Entwicklerkonferenzen und Patentrechtsverhandlungen wie einen spannenden Kriminalroman zu erzählen und im Grunde ist es zusammengenommen ja auch genau das. Immer wieder scheint er sich allerdings Details zu verlieren, zitiert Dialoge und nähere Umstände, die er nicht kennen kann und ganz offensichtlich geschmacksverstärkend hinzugefügt hat. Wesentliche Sachinformationen sind davon allerdings an keiner Stelle betroffen, somit bleibt er dem Stil der klassischen amerikanischen Non-Fictional Novel im Grunde treu. Witt hält die Chronologie der Handlung im wesentlichen ein, als zeitliche Marker dienen die diversen Leaks und bekannten VÖs von Rap-, Rock- und Popalben, die rückblickend taggenau datiert werden können. Zusätzlich zu den aufwändigen Interviews, werden auch Artikel aus Fachmagazinen und Protokolle von Gerichtsverhandlungen verwendet.

Gerade in der englischen Version braucht man Leser allerdings schon ein erweitertes Erkenntnisinteresse und einen langen Atem bzw. viel Sitzfleisch. Ausdauer wird jedoch belohnt, Witt leistet ganze Arbeit, das Ergebnis ist beeindruckend und es wäre nicht verwunderlich, wenn aus dieser literarischen Vorlage in nicht allzu ferner Zeit ein spannender Hollywoodfilm entstehen würde würde.

Der Autor lässt tief Blicken in die medialen und technischen Bedingungen der beschriebenen frühdigitalen Ära, hält sich aber mit Bewertungen und Urteilen auffällig zurück. Das mag daran liegen, dass er wie erwähnt selbst als Filesharer aktiv war. Es wird aus der Geschichte aber auch deutlich, dass der Ablauf in seiner Konsequenz historisch unvermeidlich war und daher eine Aburteilung der Aktivitäten Einzelner billig wäre und dem Thema nicht gerecht werden würde. Dieselben Unternehmen die digitale Kopien von gepressten CD-Alben verhindern wollten, verkauften ihren Kunden auch CD-Brenner und Rohlinge, dieselben Unternehmen, die Internetverbindungen anboten, wollten den Kunden den Austausch von Daten über digitale Netzwerke verbieten. Computer-Nutzer zahlten verdeckte Lizenzen für Codierprogramme und sollten gleichzeitig durch Blockadesperren daran gehindert werden bezahlte, eigene CDs auf ihren Rechner zu ziehen, zu komprimieren und/oder auf mobilen Playern zu nutzen.

Die spätere Erfindung von iPod, Downloadportalen, Smartphones und Streaming zeigt wie hoffnungslos dieser Kampf gewesen ist und welche Potentiale die Vertreter der großen Medienunternehmen nicht erkannten oder lange Zeit nicht kommerziell nutzbar konnten, stattdessen wurde die eigene Kundschaft kriminalisiert ohne ihnen eine funktionierende, kommerzielle Alternative zu bieten. So gesehen waren die Piraten der ersten Stunde wegweisende Pioniere, die etliche technische Entwicklungen erstmals konsequent anwendeten und so die Vorteile der Digitalisierung selbst noch dem letzten, minderjährigem Nutzer vor Augen führten. Hat nur etwas gedauert bis die Industrie das kapierte, nachzog und wieder Profit daraus ziehen konnte. Die gesamte Medienlandschaft und die Art des Musikkonsums hat sich im Zuge diese Entwicklung unumkehrbar verändert.

Eine nachvollziehbare Erzählung dieser bedeutsamen Geschichte war überfällig und hat einen hohen Lehr- und Unterhaltungswert. Interessant daran ist vor allem, dass es anders war, als man erwartet hätte bzw. als das Narrativ der Unterhaltungsindustrie es gegenüber den Endverbrauchern dargestellt hat („Copy kills Music“). Die großen Player standen der Entwicklung vorwiegend im Weg, maßgeblich angetrieben wurde sie von einer handvoll spleeniger Einzelkämpfer, die sich zum allergrößten Teil nicht einmal persönlich kannten: Sie sind die ‚Unsung Heroes of the Digital Revolution’.

Fazit: Ein sehr anregendes Buch über ein entscheidendes Stück Mediengeschichte, deren Auswirkungen wohl so gut wie jeden betreffen. Empfehlenswert für Medienhistoriker, Kulturwissenschaftler, Musikforscher, genaugenommen eigentlich für jeden der Ohren hat zu hören.

Das englische Taschenbuch erscheint bei Penguin und kostet 14,99 Euro. Die gebundene deutsche Ausgabe erscheint bei Eichborn für 19,99 Euro.

3 Gedanken zu „Buch: „How Music got free“ von Stephen Witt

  1. …könnt ich mir auch gut als Blockbuster mit den üblichen Verdächtigen vorstellen; Pit, Clooney Wahlberg und Konsorten sind ja mittlerweile auch im richtigen Alter.
    Oder auch die deutsche crew a la „who am I“. Da war das ganz gut umgesetzt, was die Hackerscene betrrifft.
    Is schon cool was für Umwälzungen wir in den letzten 30 Jahren erleben durften/mussten. Das haut die Weltordnung gscheid durcheinander wie vor 500 Jahren beim letzten grossen Systemwechsel.

    • @Bernhard: Wohl zuviel Luther-Filmchen geguckt, oder? Medien haben sich zwar gewandelt, aber abgesehen von einer Phase der Verwirrung, ist heute fast wieder alles beim Alten. Das große Versprechen von Freiheit und Individualität, das mit dem aufkommen des Internets verbunden war, ist längst durch. Alte und neue Firmenkonglomerate haben alles im Griff, üben zum Teil nie fürmöglich gehaltene kommerzielle Kontrolle bis in privateste Bereiche aus.

      Gerade deswegen ist auch schön nachzulesen wie ein paar Spinner vom Heimrechner ganze Industriezweige in Angst und Schrecken versetzen konnten. Man kann einfach gar nicht anders, als sie sympathisch zu finden.

  2. @Dennis Luther, Guttenberg, Münzer whatever – ich denke darüber brauchen wir nicht zu reden was das mit der Welt getan hat, zu jetzt finde ich sehr wohl auch entscheidende Umbrüche miterlebt zu haben; ok Adel wurde durch Firmen ersetzt, aber die Waffen haben sich entscheidend gewandelt; es ist doch der Pöbel der früher dem Adel gehorchte und jetzt dem Mainstream folgt. Aber ich denke vor 40 JAhren war der gesellschaftliche Druck nach einer Norm noch deutlich sprübarer und die Möglichkeiten sind per se da, ob genutzt, ob gut oder schlecht steht auf ner anderen Lutherbibel mein Gutster.

    ketzerische Grüße von obenherab behind the castle

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