Bill Kaulitz? Wer ist das? Als Sänger und Frontmann der deutschen Schülerband Tokio Hotel, die er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Tom gegründet hatte, wurde er mit „Durch den Monsun“ (2005) schlagartig berühmt. Es folgte das Debutalbum „Schrei“ (2005) und danach, tja, was kam eigentlich danach? Nun hat Kaulitz unter dem Titel „Career Suicide“ im zarten Alter von gerade mal 30 Jahren seine (erste?) Autobiographie vorgelegt.
Das Buch eröffnet mit einem übereuphorischen Vorwort des ehemaligen deutschen Popliteraten Benjamin von Stuckrad-Barre, der Kaulitz ganz, ganz toll und großartig findet und überhaupt. Anscheinend sind die beiden sich in ihrer Wahlheimat im Chateau Marmont Hotel in L.A. über den Weg gelaufen, mehr Gemeinsamkeiten scheint es nicht zu geben. Was Stuckrad-Barre reitet ausgerechnet Kaulitz so zu preisen bleibt unklar, sein einleitender Text ist eine einzige unpassende Peinlichkeit.
Kaulitz beschreibt in schmerzlich langwieriger Liebe zum Detail seine Kindheit von Geburt an, so als sei er bereits als Baby und Kleinkind ein bewusster Beobachter und verlässlicher Chronist gewesen. Von Anfang an und immer wieder wird betont wie anders, besonders und speziell er und sein Bruder immer schon gewesen sind. Abgefahren, kreativ, neugierig, abenteuerlustig, selbstverständlich auch außergewöhnlich klug, erfahren und schön sowieso. Vor allem im Vergleich zu anderen Mitschülern, die alle geschmacklose Loser, widerliche Asoziale und dumme Nazis gewesen sein sollen. Bill und Tom dagegen: Besser, talentierter und frühreif. Mit neun Jahren angeblich erste sexuelle Kontakte und Rauchen, mit elf Jahren angeblich Alkoholexzesse, Vollrausch, Drogenerfahrungen, Partys, Clubs, immer Vollgas, immer zack auf die Fresse. Alles etwas schwer zu glauben, wenn man selbst auch mal neun oder elf oder dreizehn gewesen ist. Mit 15 wollen er und seine Band dann schon ganz viel Konzerte in Clubs, bei Firmenveranstaltungen und Hochzeiten absolviert haben, ja genau. Als Kinder, die weder Zigaretten oder Alkohol kaufen durften, noch jemals in einen Club reingekommen wären und wenn, dann um 22.00 zuhause hätten sein müssen. Man will als Leser ja nicht pingelig sein und so ein bisschen Rock and Roll-Mythos geht schon in Ordnung, aber Kaulitz schreibt hier wirklich haltlosen Blödsinn. Seine Mutter und sein Stiefvater, angeblich ganz furchtbar arm, kaufen noch vor dem großen Ruhm ein eigenes Haus in der Vorstadt, das sie renovieren, man gönnt es ihnen, ganz normal eigentlich.
Bill und Tom vögeln sich da angeblich durch die Clique, haben mit 13 Jahren 16-jährige Freundinnen (war klar), jede Nacht Party, aber in der Schule läuft alles super und wenn es Stress gibt, sind die bescheuerten Lehrer oder die uncoolen, idiotischen Mitschüler Schuld. Wie abfällig und arrogant sich Bill im Buch über seine Mitmenschen äußert, die im Grunde genommen in derselben Situation waren wie er selbst, ist atemberaubend, teilweise ekelhaft und wirklich abstoßend.
Durch eine Castingshow, bei der er gnadenlos durchfällt, bekommt er ersten Kontakt zur Medienindustrie, fällt durch seinen Look auf, lockt einen Hamburger Musikproduzenten in den Proberaum. Als Band, ohne nennenswerte Erfahrung oder Repertoire, Musiker, die nicht spielen können, und Sänger, der nicht singen kann, bekommen sie von den abgecheckten Produzenten und Vermarktern innerhalb von ein paar Wochen einen Song auf den Leib geschrieben, der dann entgegen aller Erwartungen komplett durch die Decke geht. Ab hier wird es für die Leser interessant, weil der abartige Medienhype aus Sicht eines Betroffenen beschrieben wird. Man darf auch nicht vergessen, dass das alles noch in einer Zeit vor Facebook, Youtube oder Instagram stattfindet. Wichtige Medien sind hier noch Viva, Bravo und Bild.
Aber so ein Hype ist bekanntlich schnell wieder vorbei. Es folgt das Album „Schrei“ (2005) und zwei Jahre später das Album „Zimmer 483“, das gefühlt schon keinen Hit und schon gar keine popmusikalische Relevanz mehr hatte. An der musikalisch-kreativen Arbeit hatten Bill oder sein Bruder von Anfang an sowieso keinen Anteil, er berichtet an keiner Stelle darüber. Immer noch arbeitete das Produzententeam im Hintergrund alles aus, wie man bis heute ganz einfach bei den Songschreiberkredits nachlesen kann. Ob Tom bei den Aufnahmen überhaupt Gitarre gespielt hat bzw. seine Einspielungen jemals verwendet wurden? Ist fraglich.
Irgendwann fallen Bill und Tom gar nicht mehr als Musiker auf, werden zu ewigen Celebrities für Teenies und Klatschblätter. Sie sind zwar auf Konzert- und Promotour, bemerken aber irgendwann selbst, dass es kaum noch um Musik, sondern nur um ihr altes (Teenie-)Image geht. 2010 ziehen die beiden nach L.A. in eine Art freiwilliges Exil um. Kontakt zu den Bandmitgliedern nur noch sporadisch. Sie suchen nach einer eigenen künstlerischen Identität, tun sich aber schwer, weil das Handwerk fehlt und außerdem vertraglich noch ein letztes Album im Sinne des Labels abgeliefert werden muss. Es folgt „Kings of Suborbia“ (2014), was kaum noch jemanden interessiert, dann „Dream Machine“ (2017), dann wieder ganz lange nichts. Es ist traurig nachzulesen wie verloren Bill und sein Bruder durch die Welt irren. Statt sich auf ihren kommerziellen Erfolgen eine künstlerische Karriere aufzubauen, wanken sie wie angekettet an den ehemaligen Erfolg im ewig gleichen Kreis herum. Das passiert, wenn man immer nur auf Oberflächlichkeiten und die Wahrung des Scheins bedacht ist.
Fazit: Die Autobiographie von Bill Kaulitz ist tragisch und peinlich. Sie handelt von einem zauberhaften Paradiesvogel, der sich von der eigenen Karriere blenden ließ und komplett den Boden unter den Füßen verloren hat. Ein verbrauchter Kinderpopstar, immer zusammen mit seinem talentfreien Zwillingsbruder, entrückt in L.A., schier unerschöpfliche finanzielle Mittel, inzwischen Schwager von Heidi Klum, un-geouteter Schwuler, verloren im Mediendschungel, ohne handwerkliche Fähigkeiten oder kreative Vision, was soll da raus kommen? Es gibt Menschen, die sich aus solchen schrecklichen Konstellationen auf ihre eigene oftmals schmerzliche Weise herausarbeiten (z.B. Cat Stevens, Elton John, Tina Turner, Slash) es gibt den Club 27 (z.B. Kurt Cobain, Heath Ledger, Amy Winehouse, Avicii), deren Mitglieder kurzen Prozess mit sich selbst machten und es gibt Menschen, die ohne jede tiefere Einsicht immer weiter machen ohne sich selbst jemals wirksam zu hinterfragen (z.B. Boris Becker, David Hasselhoff, Gerhard Schröder). So wie Bill Kaulitz. Grow up, get a job, get a life, get some love!
Das Taschenbuch erscheint bei Ullstein, hat 382 Seiten und kostet 22 Euro.