Buch: „Russland Meschugge“ von Filipp Piatov

RusslandMeschuggeFilipp Piatov ist Russe, Ukrainer und Jude, hat aber einen bundesdeutschen Pass. Er wurde 1991 in Leningrad (heute St. Petersburg) geboren, emigrierte kurz danach mit seinen Eltern nach Deutschland und wuchs nach vorübergehenden Zwischenstationen im beschaulichen Bad Krozingen bei Freiburg auf. Nach dem Abitur studierte er Wirtschaftswissenschaft in Frankfurt, heute schreibt er Essays und Kolumnen für „Die Welt“ und andere Zeitungen und Magazine. In seinem Buch „Russland Meschugge“ berichtet er von einer Reise nach und durch Russland, die er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sara unternommen hat. Die Route führt von Kaliningrad, über St. Petersburg nach Moskau und von dort mit der transsibirischen Eisenbahn in mehreren Etappen über Jekaterinburg, Nowosibirsk, Irkutsk bis auf die Insel Olchon am Baikalsee, also ziemlich genau von West nach Ost. Das Reisebudget war schmal, zum größten Teil kamen die beiden via Couchsurfing bei gastfreundlichen Ortsansässigen unter, manchmal auch bei entfernten Verwandten und Freunden, notfalls auch in mehr oder weniger dubiosen Hostels.

Piatov schreibt stilsicher und erzählfreudig von den Erlebnissen dieser mehrwöchigen Reise in sein Herkunfts- bzw. Heimatland. Er berichtet von Städten und Landschaften, von Straßen und Bahnstrecken, von den Menschen und ihren Eigenarten, er hinterfragt Klischees, diskutiert mit Einheimischen, gerät in brenzlige Situationen, rettet sich und seine Partnerin und zieht weiter. Mindestens genau so viel Raum wie für die Erlebnisse während der eigentlichen Reise nimmt er sich im Laufe des Buches aber auch um seine besondere Familiengeschichte zu erläutern und damit seine Motivation zu erklären. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sind seine Eltern, der Vater Russe, seine Mutter Ukrainerin, in den Westen gegangen. Großeltern und Eltern haben ihm von frühester Kindheit an aus ihrem ehemaligen Leben und den gesellschaftlichen und politischen in ihrem Heimatland berichtet, trotz dieser vielen Geschichten und Informationen weiß Piatov anfangs aber herzlich wenig vom gegenwärtigen, russischen Alltag und bricht auf um sich ein eigenen Bild zu machen.

Dem Autor gelingt auf sehr charmante und unterhaltsame Weise der Spagat zwischen verschiedenen Erzählebenen. Der Text wird so zu einer gelungenen Mischung aus familiärer Emigrationsgeschichte, einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen gesellschafts-politischen Situation in Russland und einem persönlichen Reisebericht. Piatov bündelt diese Anteile zu einem gut lesbaren, humorvollen und klugen persönlichem Statement. Er scheut sich nicht seine Erfahrungen einzuordnen, in einen größeren Kontext zu setzen und vergangene und gegenwärtige Vorkommnisse bzgl. der Sowjetunion / Russland zu bewerten und persönliche Konsequenzen daraus zu ziehen. Es handelt sich hier also ganz sicher nicht um das Protokol einer Pauschalreise aus dem Urlaubsprospekt, sondern es geht dabei vielmehr um Identität, Geschichte, Politik, Mentalität, nationale Eigenheiten, etc., nicht zuletzt aber auch um Menschen.

Mehrmals stellt der Autor fest, dass er seine Identität nicht aufteilen kann. Er ist eben alles gleichzeitig: Deutscher, Ukrainer, Russe, Jude und vermutlich auch noch ein paar andere Dinge. Letzten Endes kann man dieses Buch auch als lesenswertes Dokument einer gelungenen individuellen Integration verstehen. Und das ist in unseren bewegten Zeiten doch erfreulich, oder etwa nicht?

In den Umschlagsinnenseiten des Buches sind einige stimmungsvolle Familien- und Reisefotos abgedruckt. Leider gibt es keine weiteren Bilder im Innenteil und das ist schwer zu verstehen, denn mehrfach wird im Text erwähnt, dass Piatovs Reisegefährtin Fotografin ist. Eine geographische Übersichtskarte fehlt kurioserweise ebenso, bereits eine klitzekleine Übersichtskarte wäre bereits hilfreich und dabei sicher nicht aufwändig zu erstellen gewesen.

Das Taschenbuch erscheint bei dtv premium, hat 200 Seiten und kostet 14,90€.

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