Buch: „Vintage“ von Grégoire Hervier

Grégoire Hervier ist französischer Schriftsteller. Bisher veröffentlichte er die Romane „Scream Test“ (2006) und „Zen City“ (2009). Mit einigem zeitlichen Abstand folgte nun „Vintage“ (2016), der im August 2017 in deutscher Übersetzung bei Diogenes erschien. Der neue Roman ist eine Mischung aus unterhaltsamem Krimi, instrumental-historischer Abhandlung und musikalischer Spurensuche. Hervier verwebt dabei geschickt tatsächlich belegte und frei erfundene popkulturelle Begebenheiten zu einer stringenten und spannenden Kriminalerzählung.

Der Ich-Erzähler Thomas Dupré, Hobbymusiker und Journalist, arbeitet aushilfsweise bei Prestige Guitars in Paris als ein ungewöhnlicher Auftrag eingeht. Eine wertvolle Gibson Les Paul Goldtop wurde gekauft und muss nun persönlich nach Schottland überführt werden. Er übernimmt den Botendienst und macht die Bekanntschaft mit dem vermögenden Sammler Lord Winsley, der ihm während seines Aufenthalts seine umfangreiche und erlesene E-Gitarrensammlung zeigt und ihn mit den Mythen vertraut macht, die sich um die legendäre Gibson Moderne ranken: Ende der 1950er war die Firma Gibson durch die moderneren Fender-Gitarren dermaßen in Bedrängnis geraten, dass man drei neue, futuristische Modelle entwickelte und patentierte: Futuristic/Explorer, Flying V und eben die erwähnte Moderne. Während die beiden erstgenannten in kleinen Stückzahlen gebaut und verkauft wurden, ist bei der Moderne relativ klar, dass es zum damaligen Zeitpunkt über das Prototypstadium nicht hinaus ging, in den Läden stand sie damals jedenfalls nicht. Auch die Produktion der Explorer und der Flying V wurde bereits kurz nach der Markteinführung wegen zu geringer Nachfrage wieder eingestellt. So weit, so historisch belegt.

Im Roman erhält Dupré vom schottischen Lord nun den hochdotierten Auftrag die Existenz des Urtyps der Moderne zu beweisen, am besten belegt mit einem tatsächlichen Exemplar, notfalls auch mit zweifelsfreien Beweisen. Dupré kehrt zuerst nach Paris zurück, seine aufregende Recherche führt ihn im weiteren Verlauf durch die Wiegen und Epizentren US-amerikanischer Gitarren- und Musikkultur: Memphis, Nashville, Mississippi, New Orleans, alles dabei was dem Gitarren- und Musikfan den Mund wässrig werden lässt. Klar, dass die Geschichte dabei einige unvorhergesehene Kehrtwenden nimmt. Sie ist spannend, aber vielleicht nicht unbedingt überdurchschnittlich. Wirklich herausragend wird die Erzählung durch die Einarbeitung instrumental- und musikhistorischen Detailwissens, das weit über die popkulturelle Allgemeinbildung hinausgeht. Vor den eigentlichen Text ist dem Roman ein Zitat von Nick Tosches, einem der eigenwilligsten Deuter der US-amerikanischen Blues- und Countrykultur, vorangestellt und das ist durchaus passend, denn mit einem ähnlichen Spürsinn wie Tosches geht auch Hervier bei der Konstruktion seiner Erzählung vor. Immer auf der Suche nach dem Ungewöhnlichen, dem Unwahrscheinlichen, dem Exotischen. Auf diese Weise findet er das Faszinierende im Profanen, Schönheit im Hässlichen, Freiheit in der Einschränkung, das Gute im Bösen.

Teil seiner Recherche ist es sich intensiv mit dem möglichen Klang der Moderne zu beschäftigen, dabei orientiert er sich an den historisch belegten Gibson-„Re“-Issues aus den frühen 1980ern und weiteren fernöstlichen Kopien. Aber auch zeitgenössische Aufnahmen mit den Schwesterinstrumenten Explorer und Flying V von z.B. Lonnie Mack und Albert King spielen bei seiner Annäherung ein Rolle. Irgendwann gerät er dann in Kontakt mit Leben und Nachlass des geheimnisumrankten Bluesmusikers Li Grand Zombi Robertson, einem schwarzen Albino Bluesgenie. Natürlich spielt auch der Mississippi Delta Blues eine tragende Rolle in der Geschichte und mit ihm Alkoholmissbrauch, Kneipenschlägereien, Liebschaften und uneheliche Kinder, Eifersucht, hinterhältige Morde, die Crossroads, der Pakt mit dem Teufel, Voodoo-Kult und die Fähigkeit über Nacht außergewöhnliche musikalische Fähigkeiten zu erwerben. Darüber hinaus geht es auch um Instrumenten- und Musikproduktionsgeschichte, um Schallplatten, Bandaufnahmen, Studiotechnik, um Songstrukturen, Arrangements, Riffs und Gitarrensounds. Um Blues, Country, Cajun, um Rhythm and Blues und Heart and Soul.

Dies alles könnte nun billig und ausgelutscht daher kommen, tut es aber keinesfalls. Selbst für Afficionados dürften einige neu aufbereitete, unbekannte Informationen dabei sein. Immer wieder muss man als Leser angebliche Ereignisse und Fakten nachschlagen bzw. googeln, Aufnahmen anhören und Videos ansehen um Fakten und Fiktion auseinanderzuhalten und es macht Freude sich dieser popkulturellen Mythologie in Form eigener Recherche neu zu nähern. Man ist fast dankbar für die Gelegenheit einige ungeahnte Zusammenhänge zu erfahren oder Umstände neu zu bewerten. Und am Ende spielt es kaum noch eine entscheidende Rolle, was nun wahr und was erfunden ist: „It’s all in your head“ und eine gute Geschichte ist für den Leser meist besser als die wahre Geschichte. Davon leben Kunst, Musik und Storytelling allenthalben (und es gilt solange wie mit Fake News keine Politik gemacht wird).

Die Übersetzung aus dem Französischen ins Deutsche erfolgte durch Alexandra Baisch und Stefanie Jacobs und ist gemessen am popmusikalischen und subkulturellen Fachvokabular im Text erstaunlich geschmeidig und passend geraten. Großes Kompliment!

Fazit: „Vintage“ ist ein sehr gelungenes Stück Unterhaltungsliteratur zwischen Krimi, Trash und Pulp. Empfehlenswert für mittelalte Freunde und Kenner handgemachter, amerikanischer Populärmusik. Im Subtext ein amüsanter und kluger Kommentar zum grassierendem Vintage-Kult der letzten Jahre und Jahrzehnte. Dicke Empfehlung!

„Vintage“ erscheint bei Diogenes, hat 392 Seiten und kostet gebunden 24 €.

Hier der Album-, äh, Buch-Trailer des Verlages:

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