Im Jahr 1911 verfasste der Schriftsteller Gerdt von Bassewitz während eines Kuraufenthalts im Taunus das Märchen „Peterchens Mondfahrt“. Darin geht es um die Abenteuer des Maikäfers „Herr Sumsemann“, der zusammen mit den Kindern Peter und Anneliese zum Mond fliegen will, um von dort sein verlorengegangenes sechstes Beinchen zurück zu holen. Nach seiner Rückkehr nach Köln zeigte Bassewitz das Manuskript seinem Kollegen, dem Theater-Kapellmeister Josef Achtélik. Dieser nahm es mit zu seiner neuen Anstellung als Komponist und Kapellmeister am Stadttheater in Leipzig und komponierte Musik dazu. Zu Weihnachten im Jahr 1912 wurde das so entstandene „Märchenspiel in 6 Bildern“ mit Musik für Orchester uraufgeführt und im Anschluss allein in Leipzig ca. 180 Mal gezeigt.
Seinen Siegeszug um die Welt trat „Peterchens Mondfahrt“ dann in Form eines Kinderbuches mit Illustrationen des Malers Hans Baluschek an. 1937 brandmarkten die Nationalsozialisten dessen Arbeiten als „entartete Kunst“ und unterbanden alle weiteren Veröffentlichungen, darunter auch das Kinderbuch „Peterchens Mondfahrt“. So schön der Erfolg bis dahin gewesen war, das Kinderbuch und auch die Musik gerieten durch das Verbot in Vergessenheit und mit ihr auch der Name des Komponisten des Märchenspiels.
Viele Jahre später, im Jahr 2011, nahmen die Nachkommen des Komponisten Josef Achtélik Kontakt zu Ulrich Kaiser auf und machten den Vorschlag das Märchenspiel zum 100. Jubiläum wiederaufzuführen. Die handschriftlichen Originalpartituren waren jahrzehntelang auf einem Berliner Dachboden in einem Dornröschenschlaf gelegen und sollten wieder zu Gehör gebracht werden. Ulrich Kaiser wurde hellhörig und nahm sich der Sache an. Nur ein Jahr später, fast auf den Tag genau hundert Jahre nach der Uraufführung, wurde „Peterchens Mondfahrt“ vom Kinderchor des mdr und dem mdr Sinfonieorchester unter dem Dirigat von Ulrich Kaiser aufgeführt und aufgenommen.
Das über zweistündige Werk wurde dafür zu einer 70-minütigen Konzertfassung verdichtet, die Texte zum Teil über die Musik gesprochen. Quelle der Bearbeitung war die einzig erhaltene, handgeschriebene Orchesterpartitur der Familie Achtélik. Die überarbeitete Fassung trägt, wohl in Anlehnung an Prokofievs „Peter und der Wolf“, den Untertitel „Ein musikalisches Märchen für Kinder“. Trotz der deutlichen Verkürzung und Verdichtung ist die Laufzeit der Album-Fassung mit mehr als einer Stunde immer noch immens und dürfte gerade kleinere Kinder, für die das Werk ja eigentlich gedacht ist, klar überfordern. Selbst für manche Erwachsenen könnten Umfang und Länge der Einspielung etwas zu viel des Guten sein. Dazu gibt es Wechsel zwischen Orchesterstellen, Rahmenerzählung, Gesangseinlagen, Dialogen, Chorpassagen, verschiedene Sprecher und Sänger sind beteiligt, noch dazu sind wirken Sprache und Erzähltempo nach hundert Jahren spürbar antiquiert. Vermutlich wäre es anschaulicher und verträglicher das musikalische Märchen inkl. Bildern und Bewegung in szenischer Form zu erleben. Zwar ist die Wiederbelebung dieses fast vergessenen multimedialen Klassikers nicht nur ein musikwissenschaftliches Projekt, sondern auch ein höchst erfreuliches kulturelles Ereignis. Nur wäre es angemessener gewesen, nicht nur die musikalischen Anteile, sondern auch die anschaulichen Elemente, insbesondere die Bilder von Baluschek, darzustellen. Ein begleitender Filmmitschnitt zum Konzert, eine interaktive Webseite oder eine Umsetzung als Spiel- oder Trickfilm wäre daher sicherlich zeitgemäßer gewesen und hätte vermutlich mehr Menschen erreicht, aber das kann ja vielleicht noch folgen.
Großes Verdienst dieser Produktion ist es ein wunderschönes, klassisches Musikmärchen der Vergessenheit entrissen zu haben, die von den Nationalsozialisten beabsichtigt war. „Peterchens Mondfahrt“ ist ein kulturelles Vermächtnis, dass mit anderen Kinderbüchern und Musikmärchen wie “Hänsel und Gretel“, „Peter und der Wolf“ oder „Die Kluge“ mithalten kann und im Spielrepertoire von Theatern und Opernhäusern seinen festen Platz finden sollte. Es ist eine der seltenen Gelegenheiten, bei der der Mitteldeutsche Rundfunk als öffentlich-rechtlicher Sender neben unsäglichen TV-Boulevardformaten seinem wichtigen kulturellen Auftrag nachkommt. Das fällt positiv auf und es wäre erfreulich, wenn in dieser Richtung noch mehr Engagement folgen würde.
Das Album erscheint ausschließlich als CD (leider nicht als Download oder Stream) in der Reihe mdr Klassik und umfasst ein Booklet mit ausführlichen Information zur Wiederentdeckung des Werkes und Entstehung der Aufnahmen.
Ich bin verwirrt. Ganz sicher habe ich in meiner Kindheit (also in den späten 80ern und frühen 90ern) mindestens eine Aufführung von Peterchens Mondfahrt gesehen. Ich erinnere mich noch an ein recht aufwändiges Puppenspiel mit so weit ich mich erinnere klassischen Musikeinspielern. Ich kann mich irren, aber irgendwie dämmert mir, dass ich das ganze auch im Bielefelder Theater (dieses Mal als Theaterstück, jedes Jahr zu Weihnachten gibt oder gab es Theater extra für Kinder) gesehen habe, aber da bin ich mir nicht mehr sicher. Ziemlich sicher bin ich mir aber auch, dass wir als Kinder eine Kassette mit der Geschichte hatten. Auch da, bilde ich mir ein, war Musik dabei. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an die Melodien, aber Peterchens Mondfahrt weckt in mir ähnliche Assoziationen mit Musik wie der Nussknacker oder Peter und der Wolf.
Täusche ich mich jetzt total? Oder gab es mal eine andere musikalische Fassung? Oder waren die Nazis doch nicht so erfolgerich mit ihrem Verbot. Oder liegt es nur daran, dass die Bielefelder Musik- und Kulturszene relativ links ist? (Um das vorweg zu nehmen: Gibt’s doch gar nicht! 😉 )
OK, hätte mir das Video vorher ansehen sollen. Vermutlich war es also maximal das Vorspiel. Wie einen die Erinnerung manchmal veräppelt…
@Sven: Danke für deinen Beitrag, auch wenn deine konkrete Frage von der Aussage im Video beantwortet wurde.
„Peterchens Mondfahrt“ kannte ich von einer uralten Kinderbuchausgabe meiner Mutter, sie hat es als Kind geliebt. Das Buch ist in verschiedenen Ausgaben immer noch erhältlich, wir haben es schließlich als günstiges ebook angegafft.
Es gibt dazu auch viele verschiedene Hörbuchausgaben. Die besseren davon basieren auf alten Rundfunkproduktionen, viele andere wurden als günstige Produktionen zusammengeschustert. Zum Teil wurden sie mit nachkomponierter Musik unterlegt, meist wurden zumindest die Reime des Sumsemann vertont. Klänge und Aufnahmequalität vieler Produktionen haben mich beim Querhören zum Teil entsetzt. Da kam die relativ aktuelle Einspielung der wiederentdeckten und bearbeiteten Originalpartitur gerade recht.
Ist aber selbst für musikhistorisch Interessierte Menschen vermutlich ein schwerer Brocken, habe es ja in der Rezension anklingen lassen. Welches Kind kann schon einer 70-minütigen Geschichte mit Orchester, Liedern, Dialogen und Zwischentexten folgen ohne Fotos, Bilder, Filme.
Trotzdem ist es erfreulich, dass das Singspiel wiederentdeckt wurde. So kann es nun in vollständiger und historisch halbwegs korrekter Version als Vorlage für Annäherungen alle Art dienen, das betrifft insbesondere die Musik. Vielleicht entstehen so ansehnliche Bearbeitungen für kleines Ensemble in Verbindung mit Theater, Puppenspiel, Video, Animationsfilm etc. Die bildliche Umsetzung muss sich nicht unbedingt nach den schönen Originalillustrationen richten, die kamen ja, wie man jetzt weiß, als letztes dazu.