„Vielleicht ist deswegen das Musical die Popform der Stunde, in der das Gewöhnliche nur in der Form der Gigantomanie überlebt. Das Musical ist das popkulturelle Pendant zu einer Outlet-Veranstaltung in einem Möbelhaus oder einem „All You Can Eat“-Lokal. Du kriegst alles, es ist das, was auch die anderen kriegen (wenn dein Magen es durchhält, kriegst du ein bisschen mehr), und du wirst glücklich sein, wenn du uns restlos erschöpft verlässt. Das ist einerseits das dicke Ende einer Verwertungskette: Wenn etwas garantiert sinn- und formlos geworden ist, dann wird es zu einem Musical. Das betrifft Religion, Geschichte, Literatur oder Biographie, mittlerweile in besonderem Maße aber auch die Popmusik selber. Das Ende einer Karriere besteht in der Vermusicalisierung. Egal, ob Udo Lindenberg, Jesus Christus, Ludwig II, ABBA – das Musical, das die Mehrzweckhallen der Provinz zu einem einträglichen Geschäft und zu einem identitätsstiftenden Kulturzweig macht, hat das Recyclingprinzip zur Perfektion gebracht. Es ist der Magen der Popkultur, in dem, ohne große Dramaturgien, ohnehin alles zusammenkommt.
Das Musical ist die Popform der Epoche des Prekariats. Es ist die Musik für Menschen, die sich „vollstopfen“ müssen. Auch die Pop-Acts wie der von Helene Fischer gleichen sich der Musicalform an. Auch hier wird von allem etwas geboten und zugleich auf einen heißen Kern gezielt.
Das Musical – wie auch das Helene Fischer-Konzert – ist weder ‚gut‘ noch ‚schlecht‘ […]; aber es hat eine spezielle Funktion in populären Kultur. Wie einst Kreuzworträtsel ein dickes Ende des Wissens und Lore-Romane ein dickes Ende der bürgerlichen Kultur bildeten, wie die Samstagabendunterhaltungsshow ein dickes Ende des Varieté und der Vaudevielle Show, so ist auch das Musical eine zur vollendeten Form geronnene Produktion von Pop geworden, in der die ganze Dynamik, die Widersprüchlichkeit, die Hysterie, die Hegemoniekämpfe zum Stillstand gebracht worden sind. Von hier aus geht es nicht mehr weiter. Nicht nach vorn und nicht zurück. Auch zur Seite nicht. Man kennt nur das immer Mehr vom Gleichen. Oder die Suche nach den kleinen Zutaten, Einfällen, vielleicht sogar Fehlern, die ein Werk vom anderen unterscheiden.“ (S. 66f)
Zitat aus: „Prekariatsblues Oder: Pop und die Klasse, die keine ist.“ in „Is this the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung“ (2018) von Georg Seeßlen
witzig, Prekariatsblues war das nicht der Ursprung dieses Genres? Soll es jetzt sein Untergang sein? Hört sich jedenfalls interessant an diese These, hält das Buch denn was der Titel verspricht? Dem Abgesang zum Musical kann ich jedenfalls nur zustimmen.
Interessante Idee, aber vermutlich etwas zu pauschal. Popmusik setzt sich ja aus verschiedensten Einflüssen zusammen, einer war sicherlich die Musikkultur der Arbeiterklasse, doch die gibt es laut Seeßlen nicht mehr, stattdessen eben das Prekariat. Dazu schreibt er:
„Das Prekariat ist die Sphäre der entwerteten Arbeit und der entrechteten Menschen. Es ist die Klasse, die keine Partei, keine Organisation, kein Projekt und kein Bewusstsein hat. Es ist die Klasse der nachhaltig Vereinzelten.
Es gibt das akademisch-kulturelle Prekariat, es gibt das Dienstleistungsprekariat, es gibt das digital-„kreative“ Prekariat, es gibt das industrielle und post-industrielle Prekariat, und nicht zuletzt gibt es ein landwirtschaftliches Prekariat. […]“
ja aber die haben doch die D Moll Partei und Hooligans und Fightclubs und Fussball sowie RTL, also alles wie immer Panem et Circenses.
Weiß gar nicht warum du „die“ schreibst. Ich zähle mich zum akademisch-kulturellen Prekariat. Hatte schon vorher einen leisen Verdacht, aber nach der Lektüre des Buches bin ich mir jetzt sicher.
das ist ja mal wirklich prekär!!!
…und dann wählst DU immer noch grün? hmmm
die diversen Prekariate haben natürlich ihre jeweils eigenen Biotope, ich wollte nur gegen das Argument der Vereinzelung setzen.
Ich wähle überhaupt nicht grün, wie kommst du denn darauf?
Ach ja, weil ich hin und wieder für die musiziere, aber trotz Bezahlung ist meine Stimme damit nicht gekauft!
zahlen die so schlecht?
Spaß beiseite, ich spiele schon seit fast 20 Jahren immer wieder für die Würzburger Grünen (u.a. 2x beim Wahlkampf Joschka Fischer/Gerhard Schröder). Sie sind verlässliche und angenehme Geschäftspartner und ich habe lange auch grundsätzlich mit ihren politischen Zielen sympathisiert. In der Regionalpolitik ist das zum Großteil bis heute so, in der Bundespolitik liegt die Sache anders. Da sind mir die Positionen der Grünen inzwischen zu weit in der wertkonservativen, besitzstandswahrenden Mitte angekommen.