Al-Andalus ist der arabische Name für die von 711-1492 muslimisch beherrschten Teile der Iberischen Halbinsel. Im Laufe der Jahrhunderte war das Gebiet nacheinander Kalifat, „Taifa“-Königreich und Reich von nordafrikanischen Berber-Dynastien. Die Gesellschaft setzte sich aus den Religionsgruppen Christen, Muslimen und Juden zusammen. Die Muslime unterteilten sich wiederum in mehrere ethnische Gruppen wir Araber und Berner auf. Als Mozaraber wurden Christen bezeichnet, die sich kulturell teilweise der muslimischen Dominanz assimiliert hatten, etwa durch Übernahme von arabischen Gebräuchen, arabischer Kunst und arabischen Ausdrücken, dabei aber ihren christlichen Glauben mit seinen Ritualen und ihre romanischen Sprachen beibehalten hatten. Üblich waren eigene Viertel der verschiedenen Gruppen in den Städten. Diese besondere multikulturelle Kombination führte zu einer anregenden gesellschaftlichen Grundstimmung und zur Blüte von Wissenschaft, Landwirtschaft, Architektur und Kultur. Während langer Perioden, vor allem zur Zeit des Kalifats von Córdoba (929-1031), war Al-Andalus ein Zentrum der Gelehrsamkeit. Córdoba wurde ein führendes kulturelles und wirtschaftliches Zentrum sowohl des Mittelmeerraums als auch der islamischen Welt.
Ein Ende fand das außergewöhnliche Gesellschaftsmodell durch die Eroberung des Gebiets durch christliche Armeen im Jahr 1492. Damit war die sog. Reconquisita („Rückeroberung“) abgeschlossen und durch den Katholizismus folgte ein massiver kultureller Rückschritt. Die zunächst geduldeten Mauren und Juden wurden im 15. und 16. Jahrhundert zur Taufe genötigt bzw. bei Weigerung des Landes verwiesen. Die zum christlichen Glauben übergetretenen Conversos wurden missachtet und verfolgt, wobei die Spanische Inquisition eine zentrale Rolle spielte. Die durch diese Politik bewirkte Abwanderung trug zum wirtschaftlichen Niedergang Spaniens bei.
Der norwegische Pianist, Komponist und Arrangeur Jon Balke bewegt sich an dieser Nahtstelle der spanischen Kulturgeschichte und stellte sich die Frage wie die musikalische Entwicklung verlaufen wäre, wenn sie nicht so brutal unterbrochen und vernichtet worden wäre. Eine erste, musikalische Antwort präsentierte er als Leiter des Ensembles Siwan auf dem gleichnamigen Album (2008). Es vereinigte marokkanische, tunesische und palästinensische Sänger und es entstand ein ungewöhnliche Melange zwischen Gharnati, Barock und zeitgenössischer, improvisierter Musik. Fast zehn Jahre später hat das Ensemble nun in neuer Besetzung, aber immer noch unter Leitung von Balke an das Debutalbum angeschlossen. Die Aufgabe sei es gewesen: „ to establish a unit, a working collective.“ Der Sound des Ensembles sei eine „coexisting, co-operating and communicating orchestral imagination.“
Betrachtet man die religiös motivierten Probleme, Auseinandersetzungen und Kriege der Gegenwart hat man den Eindruck, dass man in Spanien unter muslimischer Führung vor mehr als 1000 Jahren in der Kategorie Menschlichkeit schon einmal deutlich weiter war. Vor diesem Hintergrund hat das musikalische Zusammenspiel verschiedener Traditionen und Kulturen bei Siwan eine wesentlich tiefere Bedeutung als es auf den ersten Blick erscheint. Aber es kommt noch besser: Das Gedankenexperiment funktioniert auch in der musikalischen Praxis. Entscheidende Beiträge leisten dem Ensembleleiter die Sängerin Mona Boutchebak, Deya Turkan, Helge Norbakken und Pedram Khavar Zamini. Es erklingen dünn besetzte, fast solistische Vocalstücke und opulentere, die mit einem 9-stimmigen Barockstreicherensemble instrumentiert sind. Vertont wurden arabische und spanische Texte des 12.-17. Jahrhunderts. Das Ergebnis klingt alt und neu, traditionell und modern, barock und zeitgenössisch, nach Okzident und Orient, geheimnisvoll und transparent, fremd und vertraut zugleich. Die Grenzen verschwimmen und die Unterscheidung zwischen denen und uns ist überflüssig: We are them and they are us.
Fazit: Experimentelle Barockmusik? Rückwärtsgerichtete Avantgarde? Déjà-vu? Vu-Jade? Wie würde Musik heute klingen, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre? Jon Balke macht sich zusammen mit seinen Gefährten, mit Sängern und Instrumentalisten auf die Suche und stellt eine Hypothese in Klang zur Disposition. Hier wird potentielle Musikgeschichte hörbar gemacht. Wie man es auch dreht und wendet, es ist ein bewundernswertes Unternehmen und führt zu einem spannenden Ergebnis. Empfehlenswert für Klangsucher, Träumer und Utopisten.
Aufgenommen wurde das Album im Januar 2017 in Kopenhagen von Thomas Vang. Das Album 11Tracks, 48 Min. Laufzeit und erscheint bei ECM.