In den 1980er Jahren führte für deutsche Nachwuchsgitarristen kein Weg vorbei an Sigi Schwab. Der deutsche Gitarrist und Komponist, geb. 1940 in Ludwigshafen, war Gitarrist der RIAS Big Band in Berlin, arbeitete als Studiomusiker in ganz Deutschland, komponierte Fernseh-, Film- und Bühnenmusik. Ab 1980 spielte er mit dem Diabelli-Trio (Wiener Klassik), im Duo Guitarissimo mit dem österreichischen Gitarristen Peter Horton und mit der Percussion Academia. Bereits in den späten 1970er Jahren veröffentlichte er die dreibändige Heftreihe „Folkpicking für Fingerstyle Guitar“, die für viele deutschsprachige Gitarristen einen detailliert ausgearbeiteten Einstieg in seine persönliche, vom nordamerikanischen Fingerpicking geprägte Spielweise bot. Nach einem ereignisreichen und einflussreichen Berufsleben als Musiker und Gitarrist hat Schwab nun im Alter von 80 Jahren den großformatigen Band „Guitar Book“ mit 30 Solo-Arrangements von Klassik bis Jazz mit Fotos und erklärenden Texten vorgelegt. Es ist sein notiertes und kommentiertes gitarristisches Vermächtnis.
Seit dem Jahrtausendwechsel hat Schwab viele Fremdkompositionen für Gitarre in kleiner Besetzung arrangiert und im eigenen Musikverlag Melos veröffentlicht, während die Veröffentlichung von Einspielungen eigenen Repertoires spürbar zurückging. Dass Schwab noch Solo-Arrangements für Gitarre in der Schublade liegen hatte, davon war auszugehen, umso schöner, dass sie nun in einem würden Rahmen veröffentlicht wurden. Ein klein wenig unbescheiden wird das ringgebundene Heft mit einem Vorwort in drei Sprachen eröffnet (englisch, deutsch, japanisch), alle weiteren Texte auf englisch und deutsch, man zielt also klar ab auf eine internationale Leserschaft.
Die ersten 12 Stücke sind Arrangements von etwas abgespielten US-amerikanischen Jazzklassikern wie z.B. „Ain’t Misbehavin‘“, „Lullaby of Birdland“ oder „Take Five“. Aufbau ist immer gleich: 4 oder 8-taktiges Intro, mehrstimmig ausarrangiertes Thema, Outro.
Von den im Vortext postulierten, jazztypischen Herangehensweisen Variation oder Improvisation ist im Notentext nicht mehr viel zu finden. Schwab neigt ja von Haus aus zu einer akribisch präskriptiven Notation, oft wird das Tempo in genauen BPMs angegeben, dazu Spielanweisungen (italienisch!), Saitenangaben, genaueste Fingersätze (in handschriftlichem grün) und Akkordbezeichnungen (in handschriftlichem rot). Gänzlich fehlen tun allerdings dynamische Angaben und Vorgaben zu swing bzw. straight 8s, die bei Jazznotationen einen entscheidenden Unterschied machen.
Es folgen 6 Popsongs wie z.B.: „Blackbird“, „Downtown“ oder „Heal the World“, darunter alleine 3 Beatles- bzw. eigentlich ja McCartney-Kompositionen („BB“, „Eleanor Rigby“, „Yesterday“) und 2x Michael Jackson (Heal…“, „I’ll be here“), eine Auswahl mit deutlich limitierter kompositorischer Bandbreite. Ob Jackson nach den Enthüllungen der letzten Jahre und dem damit einhergehenden Cancelling aus den Playlisten der Radios dieser Welt so eine gute Wahl ist, sei mal dahingestellt. Aber gerade im Kosmos Pop hätte es soviel andere, bessere, populärere und zeitgemäßere Titel gegeben. Da merkt man dann doch, dass der Autor kein junger Mann mehr ist.
Zum Schluss gibt es noch 12+1 Kompositionen überwiegend von Schwab selbst, aber auch einige arrangierte Traditionals und jeweils 1x Händel und 1x Bach. Einen Bonustitel von Filippo Gragnani gibt’s zum Download obendrauf. Von Schwab’s eigenen Titeln erwartet man als alter Eleve natürlich am meisten, wird aber vermutlich am größten enttäuscht. Geht schon damit los, dass man die Stücke nicht anhören kann, eine Einspielung liegt dem Heft weder als CD bei, noch gibt es ein Online-Angebot zum Download oder Stream. Die Kompositionen selbst sind okay, aber leider auch nicht mehr. Keinerlei Kracher wie die Highlights der Guitarissimo-Phase, sehr schade. Was Händel und Bach in der Ausgabe verloren haben, bleibt fraglich. Klar sind die beiden herausragende deutsche Komponisten, aber beide haben nicht für Gitarre komponiert, noch dazu gibt es die abgedruckten Transkriptionen in weitaus besseren und vollständigeren Ausgaben. Nur am Rande wird erwähnt, das Bachs Präludium (BWV 1007) eigentlich Teil einer kompletten Suite ist, die weitere Sätze fehlen allerdings. Eine, wenn auch noch so schöne Teilkompositionen dermaßen aus dem musikhistorischen Kontext zu reißen, passt leider gar nicht zu dem in den Texten formulierten Anspruch. Ungewöhnlich, fast schon unfreiwillig komisch, dass Schwab auch bei Händel und Bach Akkordsymbole dazuschreibt.
Hier der gesamte Inhalt in chronologischer Reihenfolge: Ain’t Misbehavin‘ – Basin Street Blues – Close To You – Lullaby Of Birdland – Moonglow – Moonlight In Vermont – Round Midnight – Stormy Weather – Take Five – Taking A Chance On Love – The Work Song – West Coast Blues
Black Bird – Downtown – Eleanor Rigby – I’ll Be There – Heal The World – Yesterday
African Colours – Blue Serenade – Capriccio Bavarese – Jazz Me, I’m Bluesy – Jazz-Suite Nr. 1 – Jogging – Laschia Ch’io Pianga – Memos Lullaby – Nobody Knows The Trouble I’ve Seen – Parvati – Prelude BWV 1007 – Swing Low, Sweet Chariot Schwierigkeitsgrad: 3-4
Fazit: Als Sigi-Schwab-Eleve kann man vermutlich nicht anders und will mindestens einen Blick ins Heft werfen und wird dann versuchen wenigstens einige der Arrangements anzuspielen und vielleicht doch noch sowas wie „Footstompers Stagefright“ oder „Jagd den Beelzebub“ zu finden. Stattdessen ist die Auswahl der Kompositionen etwas fade, die Arrangements solide, aber technisch zu anspruchsvoll für das durchschnittliche Klangergebnis und irgendwie will auch nicht so die rechte Spielstimmung aufkommen. Wenn man dann aus Interesse nach Jahrzehnten mal wieder in die alten Guitarissimo-Aufnahmen rein hört, fällt einem schlagartig auf wie grausam und schrecklich diese mit billigem Chorus und Flanger angereicherten Piezotonabnehmer der alten Ovationgitarren geklungen haben. Es ist kaum auszuhalten und wird nicht besser dadurch, dass Schwab im Begleittext genau diesem längst überholten Sound eine eigene Lobeshymne widmet (Danke für nichts an Hans Thomann an dieser Stelle). Ist halt auch nicht mehr der Jüngste der gute, alte Sigi und die Zeiten haben sich geändert. In den 90ern kam die große Akustikwelle mit MTV-Unplugged, dann Brit Pop und Americana mit vielen jungen Singer/Songwritern, danach Youtube, Spotify, Tic Toc. Musik, Gesang und Gitarrenspiel sind längst auf einem ganz anderen Niveau, man kommt heute als interessierter Fingerpicker an Detailwissen, für das man früher seinen kleinen Finger (natürlich nur der rechten Hand!) gegeben hätte. Im Lichte dieser Entwicklungen wird einem klar wie weit die Herangehensweise von Sigi Schwab doch zurückliegt. Es sind je nach Standpunkt eben doch mehr als drei oder vier Jahrzehnte. Hast dich wacker geschlagen, viel bewegt, viele Menschen mit deiner Musik glücklich gemacht und etliche junge Leute zur Gitarre gebracht. Das ist ein großes Verdienst, aller Ehren wert und das kann ihm keiner nehmen!
„Guitar Book“ erscheint als großformatiges Ringbuch bei Schott, hat 94 Seiten und kostet 35€.