Das Buch erschien im September 2014 bei Schott und trägt den Untertitel „Das große Praxisbuch“ (39,90 €). Der Autor Christoph Hempel hat Kirchenmusik und Schulmusik studiert und ist seit 1982 Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. In den 1990er Jahren legte er die Titel „Neue Allgemeine Musiklehre“ (Schott) und „Thema Musik. Grundlagen Musiktheorie“ (Klett) vor, weitere Buchveröffentlichungen sind weder bei Amazon, noch in der Kurzbio der Hochschulwebseite verzeichnet.
Das umfangreiche Buch (618 S.) beginnt mit einer kurzen Einleitung des Autors, danach folgen 13 in viele Unterabschnitte unterteilte Kapitel: Harmonie und Harmonielehre, Grundlegende Begriffe, Akkorde, Die Klausel, Chiffrierungssysteme, Die Kadenz (1-3), Modelle harmonischer Bewegung (1-2), Musikalischer Satz, Endzeit und Ausblick, Anhang. Hempel nimmt sich viel vor und spannt einen weiten thematischen Bogen. Nach eigenen Angaben will er „ein Verständnis der musikalischen Epochen und Stilen vermitteln“, im Zentrum stehen „Verlaufsmuster und Satztypen von der Renaissance bis zu Jazz und Popularmusik“. Das Lehrbuch richtet sich an „Musikliebhaber, Lehrer, Ensembleleiter, Kirchenmusiker und Musikstudenten“.
Hempel wurde im selben Jahr wie Diether de La Motte als Professor an die Hochschule in Hannover berufen und wie dieser belegt er seine Ausführungen mit sorgfältig ausgewählten Literatur/Musikbeispielen. Diese mehr als 1000 Beispiele können mit einem Code in einer ePlayer-Version kostenlos von der Verlagswebseite heruntergeladen werden und stellen einen enormen Mehrwert dar, die beschriebenen Klangereignisse können somit gelesen und gehört werden. Hempels Betrachtung ist sehr fundamental und historisch ausgerichtet, immer wieder stellt er vermeintlich selbstverständliche musikalische Phänomene wie Akkorde, Klauseln und Kadenz in Frage, leitet musikhistorisch her und erklärt sie aus verschiedenen Blickwinkeln. Er operiert dabei mit der Terminologie der Funktionsanalyse nach Hugo Riemann und deren Fortführung von Hermann Grabner, geht aber mit den verdienten Musiktheoretikern auch kritisch ins Gericht, thematisiert Widersprüche und Grenzen der Funktionstheorie. Leider endet seine interessante Betrachtung mit der Spätromantik beim Übergang vom 19. zum 20 Jahrhundert. Damals aufregend neue und musikwissenschaftlich bereits aufgearbeitet Ansätze von Künstlern (und Theoretikern) wie Busoni, Schönberg, Strawinsky, Messiaen fehlen im Buch leider gänzlich oder werden nur sehr kurz gestreift, Entwicklungen der zeitgenössischen Musik seit 1945 sucht man vergebens. Parallel zu den Ausführungen zur Musik der klassisch-romantischen Tradition äußert sich Hempel am Rande auch immer wieder zu Themen in den Stilistiken Jazz und Pop. Die über hundertjährige Geschichte und die unermessliche stilistische Vielfalt des Jazz wird dabei zu einem einzigen Ansatz, der Akkord-Skalen-Theorie, verdichtet. Das ist im Grunde nicht falsch, wird der Sache aber leider nicht gerecht. Bedenklich sind seine stichwortartigen und sehr allgemeinen Bemerkungen zum Thema Popmusik, zu der er als klassisch ausgerichteter Theoretiker und Analyst offensichtlich keinen inhaltlichen Bezug herstellen kann und nur immer wieder die Simplizität heraushebt. Zu erkennen ist diese Geringschätzung auch darin, dass der Autor in den Bereichen Jazz und Pop keine authentischen Literatur/Musikbeispiele vorlegt, die Notendarstellungen in diesen Bereichen sind fast ausschließlich kleine Ausschnitte aus selbstkreierten Sätzen. Transkriptionen wären freilich das allererste Mittel der Wahl gewesen um musikalische Realitäten glaubhaft zu belegen. Hier hätte Hempel sich ein Beispiel an den zwar etwas betagten, aber immer noch hervorragenden Analysen Gunther Schullers nehmen müssen („Early Jazz“, „The Swing Era“).
Was der praktische Anteil („Das große Praxisbuch“) der Publikation sein soll, bleibt im Verlauf unklar. Das Buch beinhaltet keinen Aufgabenteil, es gibt keinen ergänzenden Praxisteil, es ist ein Lehr- und kein Lernbuch. Das dahingehend vielversprechende 12. Kapitel „Harmonie und musikalischer Satz“ wirkt nach 500 Seiten Theorie dann wie eine Kapitulation. Der Autor versucht hier abschließend einige etablierte Satzformen zu beschreiben, was durchaus als ehrenhafter Versuch zu werten ist. Als Gitarrist muss ich lesen: „in Bsp. 12.2., einem Gitarrensatz, sind die Harmonien in Akkordbrechungen und Durchgangsnoten aufgelöst; Stimmführung spielt hier so gut wie keine Rolle.“ Ähnlich knapp (zwei Buchseiten) und unbefriedigend werden wieder einmal die Themen Jazz („Streicher fehlen hier“) und Pop („rein additives Prinzip“) verhandelt.
Fazit: Das Buch richtet sich nicht an Musikliebhaber oder (Musik-) Studenten, sondern an vor- oder ausgebildete Theoretiker und Komponisten der klassisch-romantischen Tradition, die das harmonische Wissen über musikalische Epochen von Renaissance bis Spätromantik mal aus einem alternativen Blickwinkel (wieder-) betrachten wollen, hier ist das Buch sicherlich erhellend und inspirierend. Für praktisch orientierte Musiker wie Instrumentlisten, Sänger, Arrangeure und Ensembleleiter oder auch interessierte Musikkonsumenten dagegen vermutlich eher eine etwas trockene Lektüre.