Orgels Regel

John Mayer ist ein erfolgreicher amerikanischer Singer/Songwriter/Guitarist. Für kurze Zeit studierte er am renommierten Berklee College of Music in Boston, MA, brach sein Studium jedoch bereits nach zwei Semestern ab, zog nach Atlanta, GA, arbeitete weiter an seiner Musik, spielte sich in den lokalen Clubs nach oben, veröffentlichte eine EP, wurde von Columbia Records unter Vertrag genommen und veröffentlichte 2001 sein Major-Label Debutalbum „Room for Squares“ mit großem kommerziellen und künstlerischen Erfolg. Im Oktober 2008 kehrte er nach Berklee an seine kurzzeitige akademische Ausbildungsstätte zurück, diesmal allerdings nicht als Student, sondern als erfolgreicher Ehemaliger und legte das Konzept seiner musikalischen Arbeit und Denkweise in einem Vortrag dar. Sein Auftritt wurde gefilmt und gelangte einige Jahre später, aufgeteilt in mehrere Teile auf Youtube und erreichte dort schnell hohe Zugriffzahlen. Das liegt vermutlich daran, dass er unverblümt und ehrlich einige weit verbreitete Mythen und Legenden enttarnt. Besonders interessant sind seine Ausführungen im zweiten Teil zum Thema „What it takes to succeed“. Eine zentrale Aussage, die er vor der versammelten Studentenschaft trifft und ausführt ist folgende.

“The public is always smarter than you” John Meyer
John Mayer Berklee Part 2: What It Takes To Succeed (13:00)

John Mayer gibt dafür etliche, persönliche Beispiele und macht damit klar, dass viele, vor allem ökonomische, aber auch künstlerische Entwicklungen, nicht plan oder steuerbar sind, sich kaum oder gar nicht beeinflussen lassen. Als Beispiel dient ihm einerseits ein eigener Song, der sich trotz bester Prognosen nicht nennenswert entwickelte, dann noch ein anderer, der komplett gegen seine Erwartung richtig Fahrt aufnahm. Sein Fazit verdichtet sich in dem oben zitierten Satz.

Im Verlauf der Zeit habe ich die verschiedenen Teile mehrmals angesehen. Am zitierten Satz bin ich dabei immer wieder hängen geblieben, weil ich auch in meinem Werdegang – wenn auch im deutlich geringerem Umfang – etliche Beispiele anführen kann, die dem dargelegten Muster entsprechen. Ob da jemand schlauer war als ich, kann ich nicht sagen, aber dass ich immer wieder daneben lag mit meiner Einschätzung sehr wohl. Nun sind solche Einsichten ja nicht auf eigene musikalische Ideen und deren Vermarktungspotential beschränkt, selbst große Firmen mit erfahrenen Mitarbeitern, renommierte Wissenschaftler, große Denker und Zukunftsforscher lagen und liegen nicht selten vollkommen daneben mit ihren Prognosen und Erwartungen. Könnte es sein, dass dahinter ein universeller Mechanismus steckt? Ich machte mich auf die Suche, begann eine kleine Recherche und es dauert nicht lange bis ich auf die Ideen des britischen Chemikers und Evolutionsbiologen Leslie Orgel stieß. Allein der Name des Mannes dürfte die Ohren jedes deutschen Popularmusikforschers aufhorchen lassen, noch dazu ist die Evolution das längste, laufende Projekt aller Zeiten. Orgel formulierte zwei seiner grundsätzlichen Ideen in den sog. Orgel’s Rules von denen die zweite besonders interessant erscheint:

„Evolution is cleverer than you are“ („Die Evolution ist raffinierter als du es bist“)

Ergänzend wird hinzugefügt (Wikipedia): „Orgel’s Second Rule is intended as a rejoinder to the argument by lack of imagination. In general, this rule expresses the sometimes experienced fact that “trial and error” strategies are better than centralized intelligent human planning.“

Man könnte das Wort Evolution auch mit den Begriffen Entwicklung, Zukunft, Erfindergeist, Kreativität, Einfallsreichtum, Kunst, Musik etc. pp. ersetzen und erhält eine sinnvolle Aussage.

Für mich persönlich ist es zu einem gewissen Grad auch beruhigend, dass ich eine Idee haben, eine Umsetzung anstoßen, durchziehen und zu Ende bringen kann und es letztlich doch nicht komplett in meiner Hand liegt wie alles laufen wird, wohin die Reise geht und wo alles endet. Vermutlich ist gerade das ein Merkmal von kreativen Arbeiten mit Potential und Entwicklungskraft: Dass sie sowohl die Möglichkeit zu scheitern, als auch die zum unerwarteten Erfolg in sich tragen. Arbeiten, die von Anfang bis zum Ende berechenbar sind und garantiert funktionieren, sind undynamisch – zumal aus künstlerischer Sicht – langweilig und uninspirierend, weil vollendet. Natürlich kann auch eine gültige mathematische Formel oder ein korrektes physikalisches Modell Erhabenheit und Würde ausstrahlen. Nur ist sie eben statisch und unbeweglich, unabänderlich und ewiglich. Da braucht es auf der anderen Seite schon noch etwas wackliges, störanfälliges, unvoraussagbares, fehlbares, menschliches, interpretierbares, ambivalentes mit Veränderungspotential in verschiedenste Richtungen. Es lebe also die Kraft, die klüger ist als wir selbst. Lassen wir uns überraschen!

Ein Gedanke zu „Orgels Regel

  1. Ich mag im Grunde solche “Kernsätze” wie ““The public is always smarter than you” nicht. Man kann Erfahrung so zusammenfassen, wenn man will und oft tut man es ja selbst in ähnlicher Weise, aber im Grunde mag ich es nicht.

    Wieso man Erfolg hat mit einer bestimmten Strategie? Das kann man ja oft nur im Nachhinein beurteilen und werten. Irgendwie riecht das dann oft nach fabrizierter Kausalität.
    Ok, es gibt Regeln! Du wirst nicht Fett abbauen, indem Du maßlos isst. Aber sonst?!
    Zu den Fällen von hohen Erwartungen: Ich kenne einen Künstler, der in Zeiten eines kurzen, ungeheuren Getues um seine Person den Song “Don’t believe the hype” schrieb.
    Der Song war in sich gut gut und prophetisch, denn das Interesse an seiner Person ist mittlerweile auf ein Normalmaß zurückgegangen. Auch kein Wunder, spriessen doch ständig Myriaden neuer Namen und Acts auf den Präsentierteller!!!
    Mit WAS will man denn dann noch glänzen, sich herausstellen?
    Wieder ein anderer Producer aus meinem engeren Focus hat unlängst in einem Newsletter geschrieben, daß er sich zumindest zeitweilig vom Musikgeschäft zurückziehen will. Die letzten Jahre hätte er unendlich viel Innovatives versucht, gearbeitet wie ein Pferd, tolle Marketing-Ideen entwickelt, die ich auch sehr besonders fand, aber weniger Auftritte damit generieren können als Jahre zuvor.
    Es ist halt so, daß man offenbar das richtige Händchen braucht, um kommerziell erfolgreicher zu sein als zuvor. Erzwingen kann man es offenbar nicht (zurück zum Hauptthema).
    Es fällt einem vielleicht nur…zu?!
    Ein weites Thema. Gerade denke ich durch dieses Thema angeregt auch über Bildende Kunst nach, die sich für ähnliche Gedankengänge anbietet. Aber das wäre jetzt noch ein extra Kapitel 😉

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert