Christoph Wünsch ist Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Würzburg und betätigt sich darüber hinaus als Komponist Neuer Musik. „Satztechniken im 20. Jahrhundert“ erschien erstmals 2009 bei Bärenreiter Studienbücher Musik, 2014 erschien die unveränderte, zweite Auflage. Der Autor hat sich für seine Schrift viel vorgenommen: Geliefert werden soll ein Überblick über Satztechniken von Klassikern der Moderne, darunter ganze Musikgenres, einzelne Musikstile und Personalstile. Dafür musste verständlicherweise eine Auswahl getroffen werden. Im Inhaltsverzeichnis finden sich zehn Kapitel des Buches, fünf weitere wurden auf eine beigelegte CD-ROM ausgelagert. Die Kapitelüberschriften lauten: 1. Strukturen im Umfeld der Tonalität, 2. Harmonische Phänomene, 3. Pitch Class Set Theorie, 4. Debussy, 5. Béla Bartók, 6. Strawinsky, 7. Klassizistische Moderne, 8. Freie Atonalität, 9. Arnold Schönberg und die Zwölftontechnik, 10. Jazzharmonik
Auf der CD-ROM befinden sich zusätzlich: 1. Hindemiths „Unterweisung“, 2. Kurt Weill, 3. Oliver Messiaen, 4. Serielle Technik, 5. Minimal Music
Die Satzsysteme werden in dem Taschenbuch mit Text und Notenbeispielen auf jeweils 20-25 Seiten beschrieben. Das ist ganz offensichtlich sehr knapp bemessen und führt dazu, dass der resultierende Text zu einem extrem konzentrierten Destillat gerät, es geht tatsächlich um den reinen Tonsatz, dargestellt meist anhand nur eines einzigen Musikbeispiels im Klavierauszug. Es wird keine musikgeschichtliche Einbettung vorgenommen, die vorgestellten Techniken wirken vollkommen statisch und undynamisch. Selbst so eng damit verbundene Themen wie Instrumentierung, Besetzung, Arrangement, Form, praktische Umsetzung, etc. werden bereits nicht mehr behandelt, es gibt keine Partituren oder Klangbeispiele. Diese krasse Reduktion auf satztechnische Aspekte führt bei einigen der behandelten Stile zu so abstrakten Beschreibungen, dass man, gerade wenn man damit vertraut ist, den beschriebenen Stil kaum wiedererkennt. Insbesondere ist das der Fall bei Musikstilen, die nicht auf der Idee einer prominenten Einzelperson aufbauen, sondern auf einer längeren, kollektiven, prozessualen Entwicklung, wie z.B. Freie Atonalität, Jazzharmonik oder Minimal Music.
Im Kapitel Jazzharmonik werden z.B. Akkorde und Skalen, Voicings, Guide Lines und modale Harmonik erklärt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass hier ausschließlich musikalische Konzepte der jazzmusikalischen Epochen von ca. 1945-1965 beschrieben werden und das dann noch mit der akademischen Terminologie der 1980/90er Jahre. Die musikalischen Vorläufer Ragtime, Dixieland, Blues, Swing spielen bei der Betrachtung, so wie auch nachfolgende wie z.B. Free Jazz oder Fusion keine Rolle. Auch die entscheidenden Ideen der kollektiven Improvisation, Riffing, Head Arrangements etc. werden ebenso wenig erwähnt wie die Frage wie denn die vom Autor dargelegten Bausteine nun in Ensembles, Combos, Big Bands und Orchestern praktisch zum Klingen gebracht wurden/werden. Wertvolle Anschauungsmaterialien in Form von Transkriptionen, Aufnahmeskizzen oder Partituren fehlen gänzlich. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen wird am Ende des Kapitels brav auf deutschsprachige Fachliteratur (darunter einmal Wünsch selbst und ein ehemaliger Doktorand) verwiesen, es gibt erstaunlicherweise keinen einzigen Verweis auf amerikanische Literatur und das ausgerechnet bei dieser ur-amerikanischsten aller Musiktraditionen.
Nicht viel anders verhält es sich auch bei Kurt Weill. Hier dient dessen zwar populärste, aber ebenso abgespielteste, Zwei-Akkorde-Songkomposition „Mackie Messer“ als stellvertretendes Analyseobjekt für seinen lebensumfassenden Personalstil. Ja, seine Songkompositionen sind wesentlich und allemal eine nähere Betrachtung wert. Aus satztechnischer Sicht hätte freilich die Übertragung in die für ihn typische, aber grundsätzlich ungewöhnliche Salonorchesterform interessiert. Was steht in der Partitur, warum werden nicht Ausschnitte abgedruckt und exemplarisch analysiert? Instrumentierung, Klangfarbe und Arrangement spielen doch gerade hier eine so wichtige Rolle.
Bezeichnend auch, dass der wohl einflussreichste Musikstil des 20. Jahrhunderts, nämlich Popmusik, mit den epochalen Satztechniken (Sequenzing, Sampling, Filtering, etc.) nicht mit einer Silbe erwähnt wird. Und wenn jetzt von jemandem der Einwand erhoben wird, dass dieser Stil in sich zu divers sei, kann erwidert werden, dass das den Autor ja auch nicht vor anderen fragwürdigen, weil punktuellen Stilanalysen abgehalten hat. Es gibt dafür eine einfache Erklärung: Wünsch ist klassisch ausgebildeter Pianist und Musiktheoretiker. Er denkt in Parametern der klassisch/romantischen Musiktheorie. Er kann Klavierauszüge in traditioneller Notation sehr plausibel erklären und in knappe Theorien fassen. Man gewinnt bei der Lektüre des Buches allerdings den deutlichen Eindruck, dass schwer fassbare musikalische Einflussgrößen wie Sound, Schichtungen, Klangtextur, Groove, Danceability, Improvisation, Dynamik, Energie, Ekstase, Feeling für ihn nicht beschreibbar, ja vielleicht nicht mal erkennbar sind. Die Reduktion der musikalischen Vorlagen auf skalische und akkordische Destillate und deren mathematischen Verhältnisse beschreibt aber nur einen sehr theoretischen Teil des Klangerlebnisses, viele andere und darunter absolute entscheidenden Anteile bleiben leider auf der Strecke. Wünschs abstrakter Ansatz funktioniert sehr gut bei intellektuellen Analyseobjekten wie Pitch Class, Zwölftontechnik, Hindemith, Messiaen oder Serialismus. Bei intuitiven, prozessualen Formen von Musik erkennt man jedoch klar die Grenzen seiner Herangehensweise.
Das Buch wird vom Verlag übrigens als Studienbuch mit Lernprogramm, Aufgaben und Lösungen vermarktet. Man muss musiktheoretisch allerdings schon sehr weit fortgeschritten und dazu ein sehr strebsamer Student sein um von dieser trockenen, schriftlichen Kost profitieren zu können. Es ist vorstellbar, dass andere Lerntypen bzw. eher praktisch veranlagte Interessierte mehr von einem Hören diverser Werkeinspielungen und dem parallelen Lesen der Partituren haben. Es kommt hinzu, dass sich das Buchformat nicht gut zum Studium eignet: Größere Seiten, Ringbindung und der gesamte Inhalt in Druckform hätten hier einen entscheidenden Vorteil gebracht. Dass das die Kosten erheblich in die Höhe getrieben hätte (wie im Vorwort behauptet), ist nicht ganz glaubhaft.
Kleine Anmerkung: Im Impressum ist vermerkt, dass der Buchdruck von der Bertold Hummel Stiftung und der Sparkassenstiftung Mainfranken Würzburg finanziell unterstützt wurde. Warum sich ein gutsituierter Professor mit anständigen Bezügen eine solche Blöße gibt, bleibt unklar, hatte er nicht den Mut eigenes Geld in sein Buch zu investieren? Und sind Stiftungen nicht eigentlich dazu da Bedürftige zu unterstützen? Eine Anfrage des Rezensenten bei der Bertold Hummel Stiftung lieferte leider keine plausible Erklärung.
Das Taschenbuch inkl. CD-ROM erscheint bei Bärenreiter Studienbücher, hat 214 Seiten (weitere 150 Seiten auf CD) und kostet 26,95 Euro.
Eine wirklich aufschlußreiche Abhandlung dieses Werkes.
Ich habe sie zweimal gelesen…
Sehr interessant auch die „kleine Anmerkung“.
Ich nehme an, dass „gutsituiert“ eine Annahme on your part ist.
Der Umstand ein Professor mit „anständigen Bezügen“ zu sein, muss allerdings nicht zwingend heißen, dass man auch finanzielle Mittel zur Verfügung hat…
Die Vermutung liegt nahe, yes- still… it is a mere assumption.
Sehr gut, in jedem Fall, dass es Rezensenten gibt, die hier nachhacken.
Das Nichtliefern einer plausiblen Erklärung wirft natürlich gar kein gutes light auf die BHS.
and this:
‚Mackie Messer‘ is comprised of just two chords?
Really?
That is new to me!
@Marius: Danke für den Kommentar. Ich denke, es ist keine Unterstellung, wenn ich voraussetze, dass Herr Wünsch in seiner Position als Professor einer Hochschule für Musik finanziell besser und planbarer da steht als du, ich und die meisten anderen Leser dieses Blogs. Da war diese Querfinanzierung einfach auffällig.
Im akademischen Umfeld wird bei Veröffentlichungen von Dissertationen übrigens ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass man als Promotionsstudent (!) eine mittlere vierstellige Summe seines Privatvermögens ausgibt um den Druckkostenzuschuss für die verpflichtende VÖ bei einem akademischen Verlag zu bezahlen (um dann nie etwas davon zurückzubekommen). Es gibt Verlage, die genau damit ausschließlich ihr Geld verdienen, das juckt in den Institutionen keinen Menschen, obwohl es heute selbstverständlich andere Lösungen gäbe eine Schrift der Öffentlichkeit zugänglich zu machen (und das ist der ursprüngliche Sinn des Druckens). Musste daher schon darauf hinweisen, dass sich der Herr Professor seine Unternehmung fremdfinanzieren lässt. Anscheinend fällt so ein Widerspruch den Herrschaften selbst gar nicht mehr auf.
Gilt übrigens auch für die andere Seite: Wünsch beruft sich wohl auf das Statut der BHS, wo es heisst, dass es Aufgabe der Stiftung sei „jungen Menschen das Verständnis für moderne klassische Musik zu vermitteln“. Dass auf Grundlage dessen Buchveröffentlichungen von Professoren mitfinanziert werden, halte ich zumindest für fragwürdig. Dass weder Stiftung, noch Wünsch eine plausible Antwort geben, steht, denke ich, auch für sich.
Wünsch hat übrigens bei Hummel studiert, alle Beteiligten kennen sich persönlich, Hummels Kompositionsstil wird im Buch allerdings nicht behandelt, „junge Menschen“ (sagen wir bis 25 Jahre) werden dieses Buch mit absoluter Sicherheit nicht lesen (hat bereits meine Geduld als promovierter Musikwissenschaftler strapaziert), das alles hat ein G’schmäckle, manche nennen so was auch Vetternwirtschaft. Typisch auch wieder mal, dass sie sich dazu nicht äußern. Dass die Rezension sehr wohl von den Beteiligten gelesen wurde, kann ich anhand meiner Statistik App erkennen.
@Dennis: Das bestätigt doch leider wieder die Elfenbeinturmstory! der Mensch ist und bleibt eben ein hässliches gieriges Tier, das seine Fleischpfründe mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen bereit ist, selbst wenn diese mittel-, oder gar illegal sind; das ist denen scheissegal, wenns zum eigenen Vorteil gereicht. Ich habe da in letzter Zeit in meinem engen Umfeld auch so einiges erleben müssen. Das kotzt einen mächtig an und man ist hilflos, weil die Kritik an solchen Leuten einfach abperlt. Gewissen, Scham und andere humanistische Errungenschaften scheinen da fremd und so lange etwas nicht eindeutig juztiziabel ist wirds getan, aber selbst dann wirds der Anwalt schon richten. Sind ja schon fast amerikanische Verhältnisse nun bei uns eingetreten mit irrationalen Klagen z.B. um Studienplätze; Noten oder die berühmten Abmahner. Am Ende geht das immer gegen die eigenen Unfähigkeiten, die aber so im kranken System durchgesetzt werden. Alt ist zwar ein alter Dumpfplauderer in seinen Büchern, aber mit seinem Titel „Der ehrliche ist der Dumme“ hat er am Ende leider doch recht.
@Bernhard: Danke für den engagierten Kommentar, kann ich nachvollziehen. Ich möchte hier allerdings unmissverständlich klar stellen, dass die finanzielle Unterstützung im vorliegenden Fall sicher nicht „illegal“ war, jedoch etwas zweckentfremdet, aber das entscheidet letztlich die Stiftung, von außen betrachtet kann man es zumindest als moralisch fragwürdig bewerten.
Ich finde es wichtig, solche Zusammenhänge zu benennen, will es auf der anderen Seite aber auch nicht künstlich skandalisieren.
Falls irgendeiner der Beteiligten den Wunsch hat sich dazu zu äußern, ist er hiermit aufgefordert das zu tun.
kann mich des eindrucks nicht erwehren, dass es dir ähnlich geht wie shaft
der plot aus wikipedia in kürze:
Handlung
Der selbständig arbeitende Detektiv John Shaft hat ein kleines Büro am Times Square, doch seine Fälle führen ihn hauptsächlich in das Schwarzen-Viertel von Harlem in New York City. Er wird vom Gangsterboss Bumpy angeheuert, dessen von einem Mafia-Clan entführte Tochter zu finden und zu befreien. Am Ende des Films kommt es zum Showdown zwischen den Entführern und von Shaft angeheuerten Mitgliedern einer militanten Bürgerrechtsbewegung.
ersetzte times square durch rotkreuzstrasse, schwarzenviertel durch americana und popmusik, gangsterboss durch impetus nach aufklärung an der entführung und der militanten bürgerbewegung muss noch gearbeitet werden….
gruß vom krankenlager – ahhh das fieber!
@Bernhard: Interessanter Gedanke, Shaft war mir immer schon sympathisch (vor allem das Ge-shäft, höhö), du musst die Analogie mal mit klarem Kopf zu Ende basteln, dann verstehe ich’s vielleicht. Gute Besserung!