In diesem Sommer erschien bei PPV Medien das Buch „Harmonielehre für Gitarre“. Es handelt sich dabei um die erste musiktheoretische Veröffentlichung der fränkischen Autoren Gerhard Brunner und Thomas Dütsch. Brunner trat bisher vorwiegend als Cartoonist und Illustrator in Erscheinung und hat in den letzten Jahren zwei CD-Alben als E-Gitarrist veröffentlicht. Über Thomas Dütsch waren im Netz keine weiterführenden Information zu finden, laut Klappentext ist er Gitarrist und Sänger. Beide Autoren sind akademisch unausgebildete Autodidakten und wollen mit ihrer Publikation nach eigener Aussage eine an der musikalischen Praxis orientierte Alternative zu etablierten Standardwerken bieten. Zur Anpreisung werden bereits auf Buchdeckel und -rücken etliche vollmundige bis reißerische Ankündigungen bemüht: „Akkorde schnell verstehen und perfekt einsetzen“, „kreativer improvisieren“, „Mehr Spaß mit Musik“, „Dieses Buch bietet alles, was ein moderne Gitarrist über Harmonie- und Melodielehre wissen muss“ und „Ihr Publikum wird begeistert sein!“. Ah, ja. Das Büchlein startet mit einer Einleitung, einer Vorbemerkung und gliedert sich dann in die Kapitel „Akkorde und Harmonik“, „Melodie und Skalen“, „Praxisbeispiele und Funktionsanalysen“, „Verminderte und Dominantketten“, „Neapolitaner und Modales Zeugs“ und endet mit einem Anhang, der den Quintenzirkel und ein Sachregister umfasst.
Harmonie beginnt mit zwei Elementen, die zueinander in Bezug stehen. Das ist in der Musik im tonalen Kontext das einfache Intervall, also zwei Töne und ihr Verhältnis zueinander. Dies wird bei traditionellen Harmonielehren meist als erstes und auch sehr gründlich unter der Überschrift Intervalllehre behandelt, weil alles weitere auf eben diesen fundmentalen Verhältnissen aufbaut. Brunner und Dütsch überspringen die Erklärung dieser Grundinformation, verwenden aber im weiteren Verlauf die entsprechende Terminologie, das dann aber leider nicht immer richtig. Bereits in der Vorbemerkung erwähnen sie bei der lückenhaften Erklärung des „Tritonus“ die „kleine Quinte“ und meinen damit die verminderte Quinte, später kommt noch die „normale Quinte“ (sie meinen die reine Quinte) und die „erhöhte Quinte“ (sie meinen die übermäßige). Und so unaufgeräumt und wirr geht es munter weiter, später unterscheiden sie die „Major 7“ (große Septime) und die „normale 7“ (kleine Septime). Das sind zwar Details, aber auch auf höherer Ebene gibt es unrichtige oder zumindest konfuse Angaben. In der Vorbemerkung verwechseln sie „voicing“ (Stimmführung) mit „fingering“ (Fingersatz), später verwechseln sie Traditional Jazz und Modern Jazz. Diese Unklarheiten setzen sich leider auch im Gesamtkonzept fort. Abwechselnd verwenden sie Bezeichnungen aus der Funktions- und Stufentheorie ohne eines der beiden dynamischen Analysemodelle aus dem 19. Jahrhundert näher zu definieren. Auf dem Buchdeckel ist noch von „Pop & Rock“ die Rede, im Buch selbst werden ausschließlich historische Realbookstandards „analysiert“, das heißt eigentlich werden nach der hermetischen Akkord/Skalen-Theorie präskriptive Tonmaterialien entwickelt und den einzelnen Takten eines Standards als improvisatorisches Grundmaterial zugeordnet. Dass selbst die komponierten Themen diesen Vorgaben nicht im Ansatz entsprechen (gutes Beispiel: „All of me“), scheint den Autoren nicht einmal aufzufallen. Stattdessen werden ängstlich angebliche musikalische Gesetzmäßigkeiten hergeleitet und pseudoakademisch begründet. Dass Melodiebildung und Improvisation aus mehr besteht als aus einem Materialausschlussverfahren (z.B. Variationen, Motiven, Intervallsprüngen, Sequenzen, Licks, Riffs etc.) und noch dazu in hohem Maße stilistischen, zeitgeistigen und persönlichen Kategorien unterworfen ist, wird leider nicht mal Rande erwähnt.
Abgesehen vom durchaus diskutablen Inhalt hat das Buch auch eine sehr eigenwillige Präsentationsform. Brunner hat in seiner Eigenschaft als Zeichner alle paar Seiten mehr oder weniger laue Cartoons platziert (haha). Ebenso erscheinen immer wieder Info- und Spotboxen, die angeblich weiterführende Informationen enthalten, sich zwar durchaus als nicht falsch, aber oftmals eben auch als nicht ganz richtig oder zumindest sehr unvollständig darstellen und deswegen eben gerade nicht als weiterführend bezeichnet werden können. Wirklich sehr gewöhnungsbedürftig ist auch der anbiedernde, pseudo-elitäre und immer deutlich ironisch geprägte Sprachduktus der ganzen Schrift. Hier ein paar Beispiele:
„Wir übernehmen keine Gewährleistung, dass es gut klingt.“
„Schuld sind im Zweifelsfall immer die anderen!“
„Alteriert muss nicht sein: (…) Wozu einen enormen Aufwand betreiben, wenn der zu erreichende Nutzen sehr überschaubar ist?“
Die Darstellung der Musik beschränkt sich auf Akkordsymbole, Griffbildern und nur sehr wenige Notendarstellungen. Tabulaturen, die bevorzugte Schriftform vieler unausgebildeter Gitarristen, kommen so gut wir gar nicht vor. Die meisten musikalischen Zusammenhänge werden in schriftlichen Textpassagen erläutert. Warum auf die etablierte Darstellungsform in Noten und TAB so konsequent verzichtet wird und so sehr auf die Abstraktionsebene Schrift gesetzt wird, bleibt unklar. Es gibt keine Aufgaben mit exemplarischen Lösungen um das Erlernte in irgendeiner Weise nachvollziehen und aufarbeiten zu können. Auch eine Audio-CD, Videolinks oder entsprechende Downloadmaterialien stehen nicht zur Verfügung.
Fazit: Es bleibt unklar an wen sich das Konzept dieser „Harmonielehre“ richtet. Textaffine Nicht-Notisten mit Hang zur Abstraktion? Anti-akademische Hobbyfuddler ohne eindeutige stilistische Vorliebe? Besserwisserische Griffbrettkryptologen? Gitarrespielende Verschwörungstheoretiker?
Gitarristen, die bereits einige Jahre spielen, Erfahrungen in Rock, Pop und Blues gemacht haben und erste improvisatorische Ausflüge zu komplexeren Akkordverbindungen gemacht haben, dürften nach der Lektüre dieses Buches verwirrter sein als zu Beginn. Man muss als Leser alles schon einmal anderweitig durchgearbeitet haben um zu verstehen worauf die Autoren eigentlich hinaus wollen. Da sind die bewährten Standardwerke wie „Neue Schule für Jazzgitarre“ von Eddy Marron, „Harmonielehre I & II“ von Frank Haunschild oder auch „Die Neue Jazz-Harmonielehre“ von Frank Sikora umfassender, korrekter und hilfreicher. Was mich abschließend wirklich interessieren würde: Was sagt der beratende und mehrfach zitierte Jazzpianist Bernhard Pichl zu den unsortierten Aussagen in diesem Buch seiner beiden spätberufenen Schüler? Vielleicht hätte doch besser er das Buch schreiben sollen.
Das broschierte Taschenbuch im quadratischen Format erscheint bei PPV Medien, hat 130 Seiten und kostet gebunden 17,99 €.
…wiedermal ein klarer Fall von ADHS-Folgen, aber man sieht wie man mit dieser Diagnose noch Bücher zustande bringt, entscheidend ist halt immer der Inhalt und nicht die äussere Form.
@Na ja, um es mal klar zu sagen: Wenn man ein Buch über Harmonielehre schreibt sollte man schon wenigstens mit den Grundlagen von Intervalllehre, Kontrapunkt, Stimmführung und Satztechnik vertraut sein. Das ist erlernbares, musikalisches Handwerk und gehört zur Grundausbildung jeder ernsthaften Musikausbildung.
Man spürt leider in jeder Zeile dieses Buches, dass es da bei den Autoren hinten und vorne fehlt. Schlimm, schlimm, dass ein Verlag so was anscheinend ungeprüft in den Druck schickt. Wo kommen wir nur hin?
hallo Dennis,
Ich habe ihren Blogeintrag gelesen und kann dem leider nicht ganz zustimmen. Ich selbst habe ein wenig Erfahrungen in Sachen Harmonielehre und fand dieses Buch unterhaltsam wie lehrreich. Ich bin sehr froh es bestellt zu haben, aber da gehen die Geschmäcker wohl auseinander. Anderen Blog Lesern kann ich nur empfehlen, nicht alles zu glauben, was man liest, schließlich gibt es verschiedene Geschmäcker und Meistungen. Ich finde nur das dieser Eintrag den Autoren nicht gerecht wird…
LG
Willkommen auf diesem Blog und danke für’s Feedback. In meiner Rezension ging’s eigentlich nicht um Geschmäcker oder Meinungen, ich benenne eindeutig etliche Fehler und Unstimmigkeiten, haben Sie da auch etwas zu zu sagen? Um ihr Feedback einordnen zu können wäre auch interessant zu erfahren mit welcher Motivation das Heft angeschafft haben. Sind Sie Gitarristin? Einsteiger, Mittelstufe oder Fortgeschritten? Improvisieren Sie schon länger? Kennen Sie andere Harmonielehren? Wie würden Sie das vorliegende im direkten Vergleich einordnen? Würde mich sehr über eine Antwort freuen, herzliche Grüße.
Guten Tag Herr Schütze. Auf Ihre Fragen hin: Ich spiele selber Gitarre und würde mich in die Mittelstufe einschätzen.Ich habe noch nicht so viel Erfahrung mit Improvisation, was ich aber ändern wollte. Ich habe bisher nur die Harmonielehre für Dummies von Oliver Fehn und Chords & Scales von Rainer Glas gelesen. Weil ich mit mir und meinem Spiel aber nicht wirklich zufrieden war, habe ich im Internet nach weiteren Harmonielehren speziell für die Gitarre gesucht und bin so auf das Buch von Herr Brunner und Herr Dütsch gestoßen. Ich muss ehrlich sagen, dass mir die Fehler beim lesen nicht aufgefallen sind, aber schließlich sind sie ja der Experte:)
LG
Linda
Naja siehs doch mal so, die kollegen, falls ich diesen begriff verwenden darf, sind doch Laien im allerbesten Sinne, sie lieben die Musik und wollen auch mal glänzen, vlt betrachtet der Verlag das Drüberhinwegsehen als das Füllen einer Lücke für diese Klientel 🙂 ernsthaft, kann ja sein, dass sich manche Interessierte nicht an zu fachtheoretisch aufgeladene Bücher wagen, ich sage nur Alleinunterhalter grrrrfrrmpf, die machen ja auch Musik, die ich nicht als solche bezeichnen würde, aber nun nix wie raus aus diesem Sumpf!
@Bernhard: Ja, das wäre die einzige Erklärung, allerdings etwas skrupellos. Aber was Gutes hat die Sache ja auch: Solange solche Bücher auf den Markt kommen, braucht es gute Pädagogen, die ihren Schülern und Studenten gangbare Wege durch den Wahnsinn aufzeigen.
ach du meine Güte!
Hallo! Bin Wiedereinsteiger im Level Fortgeschrittener. Noten wieder gelernt, erste Lage. Habe ein paar passable Auftritte im kleineren Rahmen hinter mir.
Leider habe ich das Buch bestellt. Mit dem Ziel, besser spielen zu lernen. Mir fehlt es an Oreintierung/Sicherheit beim Improvisieren in den Tonlagen D.h. Anleitungen für Intros/Solis mit dazu passenden eben vielfältigen Akkorden.
Hätte ich die Buchkritik im Vorfeld gelesen, hätte ich niemals gekauft. Frage: Wer kann mir ein wirklich gutes Lehrmittel empfehlen?
Besten Dank und viel Erfolg!
Marino Koch
@Marino: Danke für den Kommentar und willkommen auf diesem Blog. Naja, vielleicht ist für den Wiedereinstieg eine Harmonielehre sowieso die falsche Wahl. Persönlich halte ich viel von Lehrwerken, die sich von vornherein auf eine spezielle musikalische Stilrichtung konzentrieren, z.B. die „Guitar Method“-Serie von Hal Leonard, jeweils nochmal aufgeteilt in Lerninhalte und Übungsstücke (Songs). Wenn’s Jazz sein soll, finde ich die Reihe „Jazz spielend lernen“ von Dux sehr gelungen und für den Bereich Bluesrock den alten Klassiker „Blues you can use“ (speziell Band 1).
Hallo Dennis
Besten Dank für Ihre Tipps. Einige Ihrer Vorschläge inspizierte ich bereits im Musikgeschäft. Ich gehe Richtung Blues und Jazz.
Sie haben mir kompetent geholfen.
Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg und Gutzeiten.
Marino Koch
PS. Betreffs meines Einkaufs ist tragisch, dass man was nichts taugt auch nicht weiterschenken kann. Aktion: Trash ins Lagerfeuer.
@Marino: Im Online-(Buch-)Handel haben Sie immerhin ein 14-tägiges Rückgaberecht und ansonsten lohnt es sich natürlich vorab Infos einzuholen und Rezensionen zu lesen. Gerne auch auf diesem Blog, hier erscheinen viele Rezensionen zu gitarrennahen Publikationen. Auf Wiedersehen!
Hallo Denis,
heute das erste mal in diesem Blog gewesen und gleich richtig Kohle gespart. Danke für die Rezension! Gut, dass es Blogger wie Sie gibt.
Groovige Grüße aus der Nordheide
Willkommen auf diesem Blog und danke für’s Feedback. Will mit meinen Rezensionen nur einen Beitrag zum Diskurs bieten, freut mich, wenn’s weiterhilft. CU next time!
Das Buch bietet nicht das, was laut Werbung versprochen wird. Mehrmals habe ich mich ernsthaft bemüht, mit dem Buch zu arbeiten. Es endete immer in einer Sackgasse. Jetzt stehe ich wieder auf Seite 45 vor der A-Bluestonleiter (Bluesskala über A?), und frage mich, wie das Griffbild entstanden ist. In anderen Publikationen sieht es anders aus.
Es gibt auch keine Möglichkeit, sich mit den Autoren direkt auszutauschen, was heute eine Selbstverständlichkeit ist. Hätte ich das Buch doch nicht gekauft.
@Jesper: Danke für den Kommentar und herzlichen willkommen auf diesem Blog.
Zum beschriebenen Problem: Es gibt nicht die eine Bluestonleiter, verschiedene Musiker verwenden unterschiedliche Töne und genauso unterschiedlich wird das auch in Harmonielehren behandelt. Ausgehend von den Moll-Pentatonik ist wahlweise noch #4, 6, b7, in Dur manchmal auch noch die große 3 dabei.
Wäre natürlich sinnvoll, sowas in einer modernen hPublikation zu erwähnen. Mehr dazu findet man hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Bluestonleiter
https://en.wikipedia.org/wiki/Blues_scale