Aufsatz: My Favourite Tracks – Meine allerliebsten Lieder, Teil 1

My Favourite Tracks – Meine allerliebsten Lieder
Auswertung und Analyse von persönlichen Bestenlisten einer Würzburger Musiktalkshow

von Dennis Schütze
Erschienen in der Schriftenreihe “Lied und populäre Kultur” (59. Jg., 2014) des Zentrums für Populäre Kultur u. Musik zum Thema “Lieder/Songs als Medien des Erinnerns“

Einleitung
Seit Oktober 2005 findet in der unterfränkischen Universitätsstadt Würzburg (ca. 125.000 Einwohner) in den Wintermonaten (Oktober bis März) jeweils einmal im Monat eine Talkshow statt in der ein prominenter Akteur der regionalen Kulturszene auf besondere Weise vorgestellt wird. In den bisher insgesamt 51 abendfüllenden Veranstaltungen wurden vor Live-Publikum und bei freiem Eintritt zehn eigens vom Gast ausgewählte Musikstücke, seine „Favourite Tracks“, als Playback von Trägermedien angehört. Darüber hinaus dienten die Tracks als roter Faden eines jeweils ca. dreistündigen Gesprächs. Fragen der Zuhörer waren dabei erlaubt und erwünscht. Als Talkgäste konnten über die Jahre u.a. der amtierende Kulturreferent, der Intendant des Mainfranken Theaters, Lokaljournalisten, Kulturredakteure, Schriftsteller, Schauspieler, Filmemacher, Künstler, Tänzer, Philosophen, lokale Blogger, Veranstalter und Kultursponsoren gewonnen werden. Die Orte der Veranstaltung wechseln und stehen soweit möglich im direkten Bezug zum jeweiligen Gast (u.a. Tanz- und Tonstudios, Künstlerateliers, Theater, Büchereien, Konzertbühnen, Kirchen und Kneipen). Seit Herbst 2008 wird die Veranstaltungsreihe vom Bezirk Unterfranken und vom Kulturamt der Stadt Würzburg (im Rahmen einer Projektförderung) finanziell unterstützt. Eine Übertragung durch Rundfunk oder TV war nie geplant und hat in keinem Fall stattgefunden. Alle bisherigen „Talks“ wurden jedoch in Form von biographische Stammdaten, Tracklisten etc. lückenlos dokumentiert und sind auf der Internetseite www.myfavouritetracks.de einsehbar. Darüber hinaus wurden weitere Informationen (Vorgespräche, Korrespondenzen, Audio- und Video-Mitschnitte) dokumentiert und nicht-öffentlich archiviert.
Die Musiktalkshow fand im Frühjahr 2014 vorerst zum letzten Mal statt. Dies soll zum Anlass genommen werden den generierten Datenfundus genauer zu betrachten und analytisch auszuwerten. Die Auswahl der „Favourite Tracks“ fand bei allen Beteiligten im vollen Bewusstsein darüber statt, dass die Titel der Trackliste öffentlich angehört und in direkten Bezug zur Person gesetzt werden würden. Bei der Auswahl wurden deswegen meist für die eigene Biographie wichtige und für Lebenseinstellung und Arbeitsfeld repräsentative Tracks gewählt. Es war deutlich zu erkennen, dass die Auswahl von den Gästen sehr sorgfältig und zum Teil mit beträchtlichem zeitlichem Aufwand getroffen wurde, ein Umstand, der sich in oft intensiven Vor- und Nachgesprächen mit dem Moderator ausdrückte. Die Veranstaltungen wurden durch Poster, Flyer, Mailinglisten und Ankündigungen in lokalen Medien beworben (Tageszeitung, Monatsmagazine, etc.). Der Zuspruch der Zuhörer war ausgesprochen wechselhaft (1 bis ca. 120), bewegte sich aber zumeist im mittleren zweistelligen Bereich.
Als Datenbasis für die statistische Auswertung standen folgende Informationen zur Verfügung: Datum und Ort der Veranstaltung, Name, Geschlecht, Geburtsjahr und berufliches Betätigungsfeld des Talkgastes, sowie Titel und Produktionsjahr der ausgewählten Tracks. Persönliche Daten wie Geburtsjahr und Betätigungsfeld entstammen der Selbstauskunft der Gäste. Die Trackinformationen wurden vom Autor soweit wie möglich verifiziert. Als Produktionsjahr eines Tracks gilt das Jahr der Erstveröffentlichung oder alternativ das Jahr der Aufnahme einer Einspielung. Es gibt daher in dieser Kategorie keine Datierung vor 1900.

Auswahl der Talk-Gäste und Relation ♂/♀
Einige Monate vor Beginn jeder Staffel wird eine Liste mit wünschenswerten Talk-Gästen erstellt. Dabei werden insbesondere prominente Akteure der lokalen und regionalen Kulturszene berücksichtigt, die sich über ihre eigentliche berufliche Tätigkeit hinaus für kulturelle Belange in der Region engagiert haben. Oft sind die Gäste daher nicht nur Kreative, sondern stehen auch einem gemeinnützigen Verein, einer Interessensgemeinschaft oder einer Initiative vor, bekleiden ein (Ehren-)Amt, fördern, unterstützen und begleiten kulturelle Projekte, Festivals, Konzert- oder Veranstaltungsreihen.
Eine ausgewogene Ratio zwischen weiblichen und männlichen Gästen wurde zwar angestrebt, hätte aber die Verhältnisse nicht realistisch widergespiegelt. Tatsächlich befinden sich überdurchschnittlich viele Männer in den verantwortlichen Positionen. Es kommt erschwerend dazu, dass von den angefragten Personen deutlich mehr Männer sofort große Bereitschaft zeigten sich, ihre Arbeit und Biographie anhand ausgewählten Tracks in einem persönlichen Gespräch vor Live-Publikum zu präsentieren. Bei Frauen war es gerade umgekehrt, überdurchschnittlich viele der angefragten Frauen ließen sich zwar das Konzept des Talks erklären und zeigten grundsätzliches Interesse für die Form der Präsentation, sagten dann aber nach einer eingeräumten Bedenkzeit eine persönliche Teilnahme ab. Begründet wurde eine Absage von Frauen u.a. damit, dass sie ihre Arbeit im Vergleich zu anderen Gästen als nicht interessant genug einschätzten. Das Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Gästen trat bereits nach wenigen Staffeln zu Tage. Der Versuch dem mit einer ausschließlich von Frauen besetzten Reihe entgegenzuwirken, scheiterte wiederum an den dazu erforderlichen Zusagen. Insgesamt haben an den 51 hier zu betrachtenden Talks 43 Männer und nur acht Frauen als Gäste teilgenommen (♂: 84,3%, ♀: 15,7%). Interessant ist, dass sich dieses Verhältnis innerhalb der Zuhörerschaft nicht widerspiegelt. Es wurden zwar keine konkreten Zahlen erhoben, doch tendenziell waren je nach Geschlecht des Gastes Talk-Gastes bei Männern etwas mehr Männer, bei Frauen etwas mehr Frauen im Publikum. Das Verhältnis dürfte im Mittel aller Talks in etwa ausgeglichen gewesen sein.

Lebensalter der Talk-Gäste
Ein wichtiges Kriterium bei der Auswahl der Talk-Gäste ist, dass sie besonders profilierte und herausragend engagierte Akteure der lokalen und regionalen Kulturszene sein sollen. Sie sind also zu einem gewissen Grad bekannt und etabliert, können von ihrem freien künstlerischen Schaffen leben, bekleiden ein öffentlichkeitswirksames (Ehren-)Amt und nehmen auf diese Weise gestalterischen Einfluss auf das kulturelle Leben der Region. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Personen sich zumeist im mittleren bis vorangeschrittenen Lebensalter befinden. Darüber hinaus ist es für die inhaltliche Gestaltung des Talks (und der Musikauswahl) förderlich, wenn der Gast auf eine lebendige und erfahrungsreiche Biographie zurückblicken kann, eventuell schon einige Lebensphasen, Ortsveränderungen und diverse Aufs und Abs in der Karriere durchlebt hat. Jugendliche, junge Erwachsene und Akteure am unmittelbaren Anfang ihrer Karrieren sind daher für eine Teilnahme an der Talkshow weniger interessant. Auf der anderen Seite wird darauf geachtet, dass die Talk-Gäste – unabhängig vom Lebensalter – aktive Gestalter der lokalen und regionalen Szene sind. Komplett retrospektive Positionen werden so bereits im Vorfeld ausgeschlossen.
In den neun bisherigen Staffeln („Volumes“) der Talkreihe waren der Jüngste der insgesamt 51 Talk-Gäste zum Zeitpunkt des Interviews 33 Jahre, der Älteste 77 Jahre alt. Das Durchschnittsalter beträgt 49 Jahre.

Auswahl der Tracks und stilistische Diversität
Von Oktober 2005 bis Januar 2014 wurden in der Musik-Talkshow „My Favourite Tracks“ insgesamt 51 Talk-Gäste vorgestellt und interviewt. Jeder einzelne von ihnen wählte im Vorfeld des Talks zehn meist musikalische Tracks aus, die er als besonders bedeutend oder prägend für seine persönliche Biographie, seinen beruflichen Werdegang oder sein künstlerisches Werk erachtet. Es gibt dafür keinerlei Vorgaben, Ratschläge oder inhaltliche Einschränkungen. Die neutrale Bezeichnung „Track“ (Tonaufnahme) im Titel der Veranstaltung trägt diese Offenheiten gegenüber jeder Stilistik bereits im Namen. Damit neben der Musik genügend Zeit für das Gespräch bleibt, werden die Gäste lediglich darauf hingewiesen, dass die Gesamtlaufzeit aller zehn Tracks maximal 60 Min. betragen soll.
Von den 51 Gästen wurden je 10 Tracks, insgesamt also 510 Tracks gewählt und vor Publikum zuerst angehört und anschließend die persönliche Bedeutung mehr oder weniger intensiv erläutert. Die Produktionsjahre der Tracks erstrecken sich von 1936 bis 2012, die Trackdauer variierte von 12 Sekunden (Pascal Comelade: „Smoke on the Water“) bis zu mehr als 15 Min (Ravel: „Bolero“). Zu hören waren Kinderlieder, Folklore, Filmmusik, Popsongs, Hörspiele, Theaterszenen, klassische Kompositionen, Live-Mitschnitte, experimentelle Soundcollagen, selbst aufgenommene Interpretationen, Klang-Artefakte und vieles mehr. Die anfänglich zur Auswertung erwogene Zuordnung der einzelnen Tracks zu dezidierten musikalischen Stilen wurde angesichts dieser unüberschaubaren Diversität und der möglichen Mehrdeutigkeit (z.B. Filmmusik mit klassischem Orchester, experimentelle Rockmusik, Sprachaufnahmen mit unterlegter Musik) aufgegeben.
Obwohl die meisten Gäste den überwiegenden Teil ihres Lebens zu ähnlichen Zeiten in derselben süddeutschen Stadt verbracht haben, einer vergleichbaren Bildungs- und Gesellschaftsschicht und in etwa einer gemeinsamen Generation angehören, kam es bei den insgesamt 510 Tracks zu lediglich vier Doppelnennungen, also der Auswahl eines Tracks, der von zwei Personen unabhängig voneinander als bedeutend und prägend für ihr Leben erachtet wurde. Die Doppelnennungen sind „Whole lotta Love“ von Led Zeppelin, „Lucky Man“ von Emerson, Lake & Palmer, „Another Brick in the Wall, Pt. 2“ von Pink Floyd und „Schwarz zu Blau“ von Peter Fox. Von 510 möglichen wurden von 51 Talk-Gästen somit also 506 verschiedene Tracks ausgewählt. Dieses Ergebnis beweist eine aus oben genannten Gründen nicht erwartbare und deswegen signifikant hohe Diversität der ausgewählten Tracks.

Sucht man innerhalb der 510 ausgewählten Tracks nach Mehrfachnennungen von Komponisten, Bands oder Einzelkünstlern, so ergibt sich folgendes Bild (hierarchisch).

Johann Sebastian Bach (9/510)
Pink Floyd (7/510)
Georg Friedrich Händel (5/510)
Jimi Hendrix (4/510)
Tom Waits (4/510)

Deutsche Barockkomponisten kommen zusammen auf immerhin 14 Nennungen unterschiedlicher Werke (keine Doppelnennungen). Es besteht innerhalb dieses Segments die höchstmögliche Diversität von Werken. Die klassische Rockmusik von Jimi Hendrix und Pink Floyd kommt zusammen auf 11 Nennungen, wobei hier eine direkte Doppelnennung (Pink Floyd: „Another Brick in the Wall, Pt. 2“) und eine indirekte Doppelnennung (Jimi Hendrix: „Hey Joe“ und Deep Purple: „Hey Joe“) zu verzeichnen sind.
Jeweils drei Nennungen haben Ludwig van Beethoven (3/510), Emerson, Lake & Palmer (3/510), Deep Purple (3/510), Herbert Grönemeyer (3/510), Led Zeppelin (3/510) und die in der Region ehemals etablierte, aber mittlerweile nicht mehr bestehende Oberton-Folklore-Formation Boerte aus der Mongolei (3/510).
Mit weniger als drei Nennungen weit abgeschlagen sind überraschenderweise folgende Konsensmusiker und -bands: The Beatles (2/510), Johnny Cash (2/510), Bob Dylan (2/510), Wolfgang Amadeus Mozart (2/510), The Velvet Underground (2/510), Elvis Presley (1/510).
Alle verbleibenden Track-Komponisten, -Bands und -Einzelkünstler werden jeweils nur einmal gewählt, auch dies wiederum ein Anzeichen signifikant hoher Diversität.

Strategien der Track-Auswahl
Die meisten Talk-Gäste ordnen ihre Tracks chronologisch und in deutlich erkennbaren Zusammenhang zur eigenen Biographie. So beziehen sich die ersten Tracks in aller Regel auf Kindheit und Jugend, die Tracks im mittleren Bereich auf die Lebensphase als junge Erwachsene und erst die letzten Tracks lassen einen Bezug zur Gegenwart und eventuell eine Vorausschau in die Zukunft (Evergreens von morgen) erkennen. Die meisten Gäste wählen nicht ihre aktuellen Lieblingslieder, sondern Tracks, die als Stellvertreter bestimmter Lebensphasen oder biographischer Umbrüche dienen. Auffällig ist, dass besonders (Kultur-) Politiker dazu neigen, durch eine ungewöhnliche stilistische Breite innerhalb ihrer persönlichen Track-Auswahl eine demonstrative Offenheit und Toleranz gegenüber möglichst vielen Geschmäckern, Musikstilen und Kulturen unter Beweis zu stellen.
Auf der anderen Seite gibt es von einigen wenigen Talk-Gästen konzeptuelle Track-Auswahlen: Ein Vertreter der lokalen Filminitiative wählte ausschließlich Filmmusik (teilweise inkl. Projektion entsprechender Filmausschnitte), eine feministische Philosophin wählte ausschließlich Musik von Frauen (allerdings mit außergewöhnlicher zeitlicher Spanne), zwei stadtbekannte Krautrockspezialisten wählten ausschließlich Rockmusik aus den 1970er Jahren, eine lokale Musikkritikerin wählte ausschließlich klassische Gesangs- und Liederinterpretationen mit starkem lokalen Bezug und ein jung gebliebener Althipster bestand darauf ausschließlich Musik aus dem „W-LAN-Zeitalter“ zu präsentieren (extrem enge zeitliche Spanne).

Produktionsjahre der Tracks
Im Vergleich zu Kategorien wie „musikalische Stilistik“ und „geo-kulturelle Herkunft“ ist das Produktionsjahr eines Tracks meist zweifelsfrei zu ermitteln. Es ist dadurch ein verhältnismäßig konkreter Indikator und beinhaltet eine Aussage darüber auf welche Zeit, Phase oder Ära der Talk-Gast sich absolut oder aber auch im Verhältnis zu seinem eigenen Lebensalter bezieht. Es muss dabei berücksichtigt werden, dass ein Talk-Gast einen Track sicher nicht vor dem Produktionsjahr gekannt haben kann. Andererseits können zwischen dem Produktionsjahr und dem Erstkontakt eines Talk-Gastes mit einem Track durchaus mehrere Jahre, in manchen Fällen auch Jahrzehnte liegen. Das darf insbesondere dann als gesichert gelten, wenn das Produktionsjahr vor dem Geburtsjahr des Talk-Gastes liegt. Freilich ändert auch ein großer zeitlicher Abstand zwischen Produktionsjahr und Erstkontakt nichts daran, auf welche Zeit und/oder Kulturepoche sich der Talk-Gast damit beruft und in welchem Verhältnis die entsprechende Jahreszahl zu seinem Lebensalter steht. Zunächst sollen im Folgenden die absoluten Zahlen betrachtet werden. Als Produktionsjahr gilt, wie bereits erwähnt, das Jahr der Erstveröffentlichung des Tracks bzw. alternativ das Jahr der Aufnahme der Einspielung.

MFTGrafik3Diagramm 1: Verteilung der Produktionsjahre der Tracks (absolut)

Der älteste Track stammt aus dem Jahr 1936 (Robert Johnson: „Kindhearted Woman Blues“), der jüngste aus dem Jahr 2013 (Daft Punk: „Georgio by Moroder“). Hierzu muss angemerkt werden, dass die Reihe 2005 begann und daher auch bei der aktuellsten Auswahl nur wenige Gäste die Möglichkeit hatten Titel aus den Jahren 2013 oder gar 2014 zu wählen. Track-Produktionsjahre vor 1960 sind insgesamt selten, Produktionsjahre vor 1950 liegen bereits deutlich außerhalb der Norm. Von insgesamt 510 Tracks stammen lediglich sieben aus den 1940er Jahren und nur der oben erwähnte, einzelne Track aus den 1930er Jahren. Aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, gibt es keine einzige Nennung. Besonders stark konzentrieren sich dagegen die Produktionsjahre der Tracks um die Jahre 1970 und 2000. Auch um die Jahre 2005/2006 herum ist ein deutlicher Peak zu erkennen. Der Durchschnitt aller Tracks liegt rechnerisch im letzten Quartal des Jahres 1986.

Werfen wir nun einen Blick auf die Verteilung der Produktionsjahre der Tracks pro Talk-Gast. Diagramm 2 stellt in chronologischer Reihenfolge der Musiktalks die Produktionsjahre der insgesamt 51 individuellen Track-Auswahlen dar. Die Minima und Maxima jeder Auswahl sind deutlich zu erkennen und bilden pro Talk-Gast einen klar umrissenen, zeitlichen Bezugsrahmen. Bei einem Vergleich der individuellen Auswahlen untereinander entsteht ein sehr variantenreiches Bild. Ein allgemeingültiges Muster für Minima, Maxima oder die zeitliche Spanne des Bezugsrahmens ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Individuelle Minima bewegen sich zwischen 1936 und 2004, individuelle Maxima zwischen 1972 und 2013. Die individuellen Spannen bewegen sich zwischen einem Minimum von 7 Jahren bis zu einem Maximum von 72 Jahren.
Der rechnerische Durchschnitt der individuellen Minima aller Talk-Gäste liegt im ersten Quartal des Jahres 1966, der der individuellen Maxima liegt im ersten Quartal des Jahres 2003, dies bei Talk-Gästen deren rechnerisches Mittel des Geburtsjahrs in das Jahr 1960 datiert. Der Durchschnitt der individuellen zeitlichen Spannen aller Talk-Gäste liegt bei etwa 37 Jahren.
MFTGrafik1Diagramm 2: Verteilung der Produktionsjahre der Tracks pro Gast (absolut)

Ende Teil 1, Teil 2

Video: Apfel-Beeren-Crumble

Meine 12-jährige Tochter backt gern Crumble. Das ist eine englische oder US-amerikanische Süßspeise, genaugenommen sind es mit Streuseln überbackene Früchte. Die ersten Male wurde ihr noch geholfen, mittlerweile backt sie die Crumbles ganz allein. Beim letzten Mal hat sie die Zutaten und Arbeitsschritte auf eigene Initiative fotografisch und filmerisch mit ihrem iPod Touch festgehalten und kurz danach ein Video für die Zubereitung eines „Apfel-Beeren-Crumbles“ zusammengebastelt. Es besteht aus Fotos (zum Teil mit absichtlicher Unschärfe und/oder Ken Burns Effekt), kurzen Filmpassagen, eingeblendeten Texten und unterlegter Musik. Das alles hat sie wohlgemerkt ohne Hilfe auf dem winzigen Bildschirm ihres kleinen Geräts gemacht. Ich konnte es erst gar nicht glauben, bin ganz hin und weg und auch ein bisschen stolz. Die Zubereitung ist übrigens gar nicht so schwer und schmeckt auch sehr lecker (unbedingt warm genießen)! Aber seht selbst:

Buch: „Lehrbuch der harmonischen Analyse“ von Thomas Krämer

HarmonischeAnalyseThomas Krämer ist Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Saar. Das „Lehrbuch der harmonischen Analyse“ erschien ursprünglich bereits 1997, eine verbesserte, 2. Auflage im Jahr 2012. Im Rahmen von Krämers Veröffentlichungen kann das Buch als zweiter Band und Fortführung von „Harmonielehre im Selbststudium“ betrachtet werden. Neben Choral und Volkslied im vierstimmigen Satz werden diesmal auch solistische Instrumentalwerke und das frühromantische Kunstlied behandelt. Im Zentrum stehen weiterhin unangefochten die harmonischen Konventionen der Musik von 1600-1900 und operiert wird bei jeder Erklärung oder Analyse mit den Mitteln der klassischen Funktionstheorie. Die klar strukturierten sieben Kapitel behandeln die Themen:

1. Einführung, 2. Grundlagen, 3. Erweiterte Tonalität, 4. Entfernte Terzverwandtschaften, 5. Alterationen, 6. Modulationen, 7. Harmonik in ein- und zweistimmiger Musik J. S. Bachs

Krämer entwickelt seine Schrift Schritt für Schritt, mit klarem Sachverstand und pädagogischem Einfühlungsvermögen. So ist das Buch sicherlich auch für angeleiteten Unterricht mit einem Lehrer gut geeignet. Jedes Kapitel umfasst jeweils eine umfassende theoretische Einführung, kommentierte Literaturbeispiele und schließt mit einem Aufgabenteil (Lösungen im Anhang). Über alle Kapitel verteilt werden einige aufschlussreiche, exemplarische Analysen präsentiert. Der zwei- und dreistimmigen Harmonik Bachs wurde sogar das komplette Schlusskapitel gewidmet. Im Anhang befindet sich eine hilfreiche Übersicht über „Funktionsklänge und -symbole“, eine kleine Einführung in „Generalbassbezeichnungen und –beispiele“ und eine Zusammenstellung von behandelten Standardkadenzen.

Fazit: „Lehrbuch der harmonischen Analyse“ ist ein übersichtliches und methodisch sinnvoll aufgebautes Standardwerk zur Vermittlung von harmonischen Analysen auf Basis der Funktionstheorie. Behandelt werden erweiterte Harmonielehrethemen wie Terzverwandtschaft, Alterationen und Modulationen, beispielhaft dargestellt an zwei-, drei- und vierstimmigen Werken des 16.-19. Jahrhunderts. Dem im Vorwort zitierten Satz von Hermann Grabner wird der Autor somit im vollem Umfang gerecht: „Das beste Lehrbuch wird immer das Kunstwerk sein.“(Grabner, 1925)

Das Taschenbuch hat 136 Seiten, erscheint bei Breitkopf & Härtel und kostet 16,00 Euro.

Video: „99 Luftballons“ von Du & Ich

Im letzten Sommer erschien das Album „NDW – Wiederbesucht“ des Studioprojekts Du & Ich. Produziert und eingespielt wurden die insgesamt neun Tracks von Camilo Goitia und mir, Dennis Schütze. Kurz danach erschien das von Ralf Schuster produzierte Musikvideo „Da Da Da“.

In diesem Monat werden jeden Mittwoch ausgewählte Tracks des Album als Fotovideos veröffentlicht, heute unsere Interpretation des Nena-Klassikers „99 Luftballons“ von 1983. Im Februar 1984 wurde es in der englischen Version „99 Red Balloons“ zum internationalen #1-Hit. Hebt ab und lasst euch davon tragen!

Noten: „Bach for Guitar“ von Martin Hegel (Hg.)

BachForGuitarJohann Sebastian Bach (1685-1750) ist wohl zweifellos der bedeutendste und einflussreichste Komponist des deutschen Spätbarocks. Im Laufe seines Lebens komponierte er unzählige Vokalwerke wie Passionen, Messen, Choräle und Kantaten, sein Werk umfasst aber auch berühmte Instrumentalkompositionen für alle Arten von Ensembles und Solobesetzung. Einen besonderen Platz nehmen dabei die Kompositionen für Laute bzw. Lautenwerk ein. Bach selbst hat sich wohl nicht als Lautenist betätigt, es gibt jedoch Passagen für Laute in Arien der Johannes- und Matthäus-Passion und einige Kompositionen für Lautenwerk. Bis zum heutigen Tag ist jedoch nicht einwandfrei geklärt, ob diese Präludien und Suiten nun tatsächlich für Laute oder für das dem Cembalo verwandte Lautenklavier niedergeschrieben wurden. Bach, der erwiesenermaßen zwei solcher Tasteninstrumente besaß, bezeichnete das Lautenklavier auch als „Lautenwerck“. Aufschlussreich ist auch, dass Bach die angeblichen Kompositionen für Laute nicht in der damals dafür üblichen Tabulatur, sondern in zwei Systemen mit Bass- und Violinschlüssel notierte. Diese Unklarheiten haben Instrumentalisten des 20. Jahrhunderts nicht davon abgehalten diese Kompositionen für die Griff- und Spielweise der modernen, klassischen Gitarre einzurichten. Die Präludien und Suitensätze gelten als technisch äußerst anspruchsvoll und gehören seit Jahrzehnten zum unumstößlichen Standard moderner Prüfungs- und Konzertprogramme. Weiterlesen

Video: „NamNam“ von Zacq & Mari

Im letzten Sommer habe ich von zwei eigenen Songproduktionen mit der Singer/Songwriterin Zacquine Miken aus Singapur berichtet („Singer from Singapore“). Von mir aufgenommen und produziert wurden die Songs „Drawn to you“ und „NamNam“, mit beteiligt war neben der Sängerin noch Marius-Antonin Fleck. Er hatte den Song arrangiert und die Ukulele eingespielt. Den Kontrabass spielte Camilo Goitia, Schlagzeug und Percussion steuerte Jan Hees aus Bretten bei und er hat beide Tracks auch gemixt und gemastert.

Die Produktion war bis Anfang November abgeschlossen und im Anschluss wurde auf meine dringende Empfehlung fleißig an einem Musikvideo gearbeitet. Weil es im Song „NamNam“ um einen aquamarinfarbenen Zierfisch geht, lag es nah das Tier, das es wirklich gibt, in seinem Aquarium abzufilmen, inkl. Blubbern, Blasen, etc. Der Dreh war dann nicht ganz so einfach wie anfangs angenommen (ungewollte Glas- und Wasserreflexionen), doch nach mehreren Sessions sind etliche, doch recht anmutige Szenen eingefangen und zu einem hübschen, kleinen Video zusammengestellt worden (Film & Schnitt: Camilo Goitia). Seit kurzem kann man sich das Video ansehen. Es ist der erste Release von „Zacq & Mari“. Feedback und Kommentare sind herzlich willkommen.

Buch: „All that Jazz“ von Michael Jacobs

AllThatJazz„All that Jazz. Die Geschichte einer Musik“ erschien erstmals 1996 bei Reclam. 2007 erschien eine 3., erweiterte und aktualisierte Ausgabe mit einem zusätzlichen Schlusskapitel von Robert Fischer. Neben „Das Jazzbuch“ (1953) von Joachim-Ernst Berendt und „Sozialgeschichte des Jazz“ (1991) von Ekkehard Jost gehört „All that Jazz“ zu den herausragenden, weil eigenständigen, jazzhistorischen Publikationen in deutscher Sprache und ist allemal eine Retrospektive wert. Über den Autor ist wenig bekannt. Er lebt als freier Publizist, Herausgeber und Übersetzer bei München, weitere Publikationen sind – zumindest im Internet – nicht auffindbar. Der Text ist in 15 Kapitel untergliedert, startet ohne Vorwort oder Einleitung und schreitet chronologisch voran. Es beginnt mit den Wurzeln des Jazz, es folgen New-Orleans-Jazz, Chicago, weiße Musiker der 20er Jahre, schwarzer Big-Band-Jazz, Count Basie, Benny Goodman, Amerikanische Jazzmusiker in Europa, Jazz während WWII, New Orleans Revival & Bebop, Cool Jazz, Hard Bop, Free Jazz & Fusion, Avantgarde & Traditionalisten. Das Buch schließt in der aktuellen Auflage mit dem Kapitel „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“ von Robert Fischer (wurde 2007 hinzugefügt).

Jacobs nimmt sich für traditionelle Formen des Jazz (bis ca. 1940) auffällig viel Platz, fast zwei Drittel des Buches werden davon ausgefüllt. Die Ausprägungsformen des Bop werden deutlich knapper abgehandelt, Third Stream, Modaler Jazz, Bossa Nova überspringt er komplett, Free Jazz, Fusion und zeitgenössischer Jazz (1990-2006) werden nur sehr flüchtig angesprochen. Diese tendenziöse, inhaltliche Ausrichtung wurde Jacobs von Kritikern zum Vorwurf gemacht, so schreibt z.B. „Die Berliner Literaturkritik“: „Michael Jacobs befördert den Irrglauben, dass Jazz eine tote Musik sei, die ihre Hochzeit in New Orleans hatte, dann zum Bigband-Jazz mutierte und in den vergangenen über fünfzig Jahren nur noch die immergleichen Melodien wiederkäut. Das ist natürlich grober Unfug. “

Wie auch immer man zu dieser, letzten Aussage steht, kann man es aber auch anders sehen: Wenn Berendt ein deutscher Pioneer der Jazzgeschichtsschreibung war und Jost die akademisch-soziologische Perspektive betonte, dann steht Jacobs eben für eine etwas konservative, anekdotisch-biografische Sichtweise. Vielleicht genügt das nicht einem streng wissenschaftlichen Anspruch, aber das Buch lässt sich gut durchschmökern, über die meisten, wesentlichen Entwicklungen des Jazz wird man dabei gut informiert, man erfährt einiges über die tatsächlichen Lebensumstände der Protagonisten, es werden viele wichtige Aufnahmesessions, Einspielungen und Albumveröffentlichungen benannt und dann ist das Buch mit 60 s/w-Fotos (meist Portraitaufnahmen von Musikern) ansprechend angereichert. Für schlappe 9,95 bekommt man da also eine ganze Menge, für einen ersten Überblick reicht das allemal. Ergänzen ließe sich das – bei weiterführendem Interesse – durch die beiden bereits erwähnten Bücher, nicht unerwähnt bleiben aber sollen hier auch „The Swing Era“ von Gunter Schuller, „Jazz“ von Arrigo Polillo, „Jazz“ von Lewis Porter & Michael Ullman und natürlich das erst jüngst erschienene Schwergewicht „A new History of Jazz“ von Alyn Shipton.

Das Taschenbuch erscheint im Reclam Verlag, hat 472 Seiten und kostet 9,95 Euro.

Video: „Das Model“ von Du & Ich

Im letzten Sommer erschien das Album „NDW – Wiederbesucht“ von Du & Ich. Produziert und eingespielt wurden die insgesamt neun Tracks von Camilo Goitia und mir, Dennis Schütze. Kurz danach erschien das von Ralf Schuster produzierte Musikvideo „Da Da Da“.

Im Monat Januar werden ab sofort jeden Mittwoch einige weitere Tracks des Album als Fotovideos veröffentlicht. Heute starten wir mit unserer Interpretation des Kraftwerk-Klassikers „Das Model“ (ja, wird tatsächlich nur mit einem „l“ geschrieben). Es war der erste Track, den Camilo und ich gemeinsam für das Album produziert haben und erschien letztlich in zwei Versionen (deutsch & englisch). Wir haben versucht die Vorlage auf ein kleinkalibriges Mini-Acoustic-Arrangement zu reduzieren. Beurteilt selbst in wie weit uns das gelungen ist!

Buch: „Satztechniken im 20. Jahrhundert“ von Christoph Wünsch

SatztechnikenChristoph Wünsch ist Professor für Musiktheorie an der Hochschule für Musik Würzburg und betätigt sich darüber hinaus als Komponist Neuer Musik. „Satztechniken im 20. Jahrhundert“ erschien erstmals 2009 bei Bärenreiter Studienbücher Musik, 2014 erschien die unveränderte, zweite Auflage. Der Autor hat sich für seine Schrift viel vorgenommen: Geliefert werden soll ein Überblick über Satztechniken von Klassikern der Moderne, darunter ganze Musikgenres, einzelne Musikstile und Personalstile. Dafür musste verständlicherweise eine Auswahl getroffen werden. Im Inhaltsverzeichnis finden sich zehn Kapitel des Buches, fünf weitere wurden auf eine beigelegte CD-ROM ausgelagert. Die Kapitelüberschriften lauten: 1. Strukturen im Umfeld der Tonalität, 2. Harmonische Phänomene, 3. Pitch Class Set Theorie, 4. Debussy, 5. Béla Bartók, 6. Strawinsky, 7. Klassizistische Moderne, 8. Freie Atonalität, 9. Arnold Schönberg und die Zwölftontechnik, 10. Jazzharmonik
Auf der CD-ROM befinden sich zusätzlich: 1. Hindemiths „Unterweisung“, 2. Kurt Weill, 3. Oliver Messiaen, 4. Serielle Technik, 5. Minimal Music

Die Satzsysteme werden in dem Taschenbuch mit Text und Notenbeispielen auf jeweils 20-25 Seiten beschrieben. Das ist ganz offensichtlich sehr knapp bemessen und führt dazu, dass der resultierende Text zu einem extrem konzentrierten Destillat gerät, es geht tatsächlich um den reinen Tonsatz, dargestellt meist anhand nur eines einzigen Musikbeispiels im Klavierauszug. Es wird keine musikgeschichtliche Einbettung vorgenommen, die vorgestellten Techniken wirken vollkommen statisch und undynamisch. Selbst so eng damit verbundene Themen wie Instrumentierung, Besetzung, Arrangement, Form, praktische Umsetzung, etc. werden bereits nicht mehr behandelt, es gibt keine Partituren oder Klangbeispiele. Diese krasse Reduktion auf satztechnische Aspekte führt bei einigen der behandelten Stile zu so abstrakten Beschreibungen, dass man, gerade wenn man damit vertraut ist, den beschriebenen Stil kaum wiedererkennt. Insbesondere ist das der Fall bei Musikstilen, die nicht auf der Idee einer prominenten Einzelperson aufbauen, sondern auf einer längeren, kollektiven, prozessualen Entwicklung, wie z.B. Freie Atonalität, Jazzharmonik oder Minimal Music.

Im Kapitel Jazzharmonik werden z.B. Akkorde und Skalen, Voicings, Guide Lines und modale Harmonik erklärt, aber mit keinem Wort erwähnt, dass hier ausschließlich musikalische Konzepte der jazzmusikalischen Epochen von ca. 1945-1965 beschrieben werden und das dann noch mit der akademischen Terminologie der 1980/90er Jahre. Die musikalischen Vorläufer Ragtime, Dixieland, Blues, Swing spielen bei der Betrachtung, so wie auch nachfolgende wie z.B. Free Jazz oder Fusion keine Rolle. Auch die entscheidenden Ideen der kollektiven Improvisation, Riffing, Head Arrangements etc. werden ebenso wenig erwähnt wie die Frage wie denn die vom Autor dargelegten Bausteine nun in Ensembles, Combos, Big Bands und Orchestern praktisch zum Klingen gebracht wurden/werden. Wertvolle Anschauungsmaterialien in Form von Transkriptionen, Aufnahmeskizzen oder Partituren fehlen gänzlich. Um dem ganzen die Krone aufzusetzen wird am Ende des Kapitels brav auf deutschsprachige Fachliteratur (darunter einmal Wünsch selbst und ein ehemaliger Doktorand) verwiesen, es gibt erstaunlicherweise keinen einzigen Verweis auf amerikanische Literatur und das ausgerechnet bei dieser ur-amerikanischsten aller Musiktraditionen.

Nicht viel anders verhält es sich auch bei Kurt Weill. Hier dient dessen zwar populärste, aber ebenso abgespielteste, Zwei-Akkorde-Songkomposition „Mackie Messer“ als stellvertretendes Analyseobjekt für seinen lebensumfassenden Personalstil. Ja, seine Songkompositionen sind wesentlich und allemal eine nähere Betrachtung wert. Aus satztechnischer Sicht hätte freilich die Übertragung in die für ihn typische, aber grundsätzlich ungewöhnliche Salonorchesterform interessiert. Was steht in der Partitur, warum werden nicht Ausschnitte abgedruckt und exemplarisch analysiert? Instrumentierung, Klangfarbe und Arrangement spielen doch gerade hier eine so wichtige Rolle.

Bezeichnend auch, dass der wohl einflussreichste Musikstil des 20. Jahrhunderts, nämlich Popmusik, mit den epochalen Satztechniken (Sequenzing, Sampling, Filtering, etc.) nicht mit einer Silbe erwähnt wird. Und wenn jetzt von jemandem der Einwand erhoben wird, dass dieser Stil in sich zu divers sei, kann erwidert werden, dass das den Autor ja auch nicht vor anderen fragwürdigen, weil punktuellen Stilanalysen abgehalten hat. Es gibt dafür eine einfache Erklärung: Wünsch ist klassisch ausgebildeter Pianist und Musiktheoretiker. Er denkt in Parametern der klassisch/romantischen Musiktheorie. Er kann Klavierauszüge in traditioneller Notation sehr plausibel erklären und in knappe Theorien fassen. Man gewinnt bei der Lektüre des Buches allerdings den deutlichen Eindruck, dass schwer fassbare musikalische Einflussgrößen wie Sound, Schichtungen, Klangtextur, Groove, Danceability, Improvisation, Dynamik, Energie, Ekstase, Feeling für ihn nicht beschreibbar, ja vielleicht nicht mal erkennbar sind. Die Reduktion der musikalischen Vorlagen auf skalische und akkordische Destillate und deren mathematischen Verhältnisse beschreibt aber nur einen sehr theoretischen Teil des Klangerlebnisses, viele andere und darunter absolute entscheidenden Anteile bleiben leider auf der Strecke. Wünschs abstrakter Ansatz funktioniert sehr gut bei intellektuellen Analyseobjekten wie Pitch Class, Zwölftontechnik, Hindemith, Messiaen oder Serialismus. Bei intuitiven, prozessualen Formen von Musik erkennt man jedoch klar die Grenzen seiner Herangehensweise.

Das Buch wird vom Verlag übrigens als Studienbuch mit Lernprogramm, Aufgaben und Lösungen vermarktet. Man muss musiktheoretisch allerdings schon sehr weit fortgeschritten und dazu ein sehr strebsamer Student sein um von dieser trockenen, schriftlichen Kost profitieren zu können. Es ist vorstellbar, dass andere Lerntypen bzw. eher praktisch veranlagte Interessierte mehr von einem Hören diverser Werkeinspielungen und dem parallelen Lesen der Partituren haben. Es kommt hinzu, dass sich das Buchformat nicht gut zum Studium eignet: Größere Seiten, Ringbindung und der gesamte Inhalt in Druckform hätten hier einen entscheidenden Vorteil gebracht. Dass das die Kosten erheblich in die Höhe getrieben hätte (wie im Vorwort behauptet), ist nicht ganz glaubhaft.

Kleine Anmerkung: Im Impressum ist vermerkt, dass der Buchdruck von der Bertold Hummel Stiftung und der Sparkassenstiftung Mainfranken Würzburg finanziell unterstützt wurde. Warum sich ein gutsituierter Professor mit anständigen Bezügen eine solche Blöße gibt, bleibt unklar, hatte er nicht den Mut eigenes Geld in sein Buch zu investieren? Und sind Stiftungen nicht eigentlich dazu da Bedürftige zu unterstützen? Eine Anfrage des Rezensenten bei der Bertold Hummel Stiftung lieferte leider keine plausible Erklärung.

Das Taschenbuch inkl. CD-ROM erscheint bei Bärenreiter Studienbücher, hat 214 Seiten (weitere 150 Seiten auf CD) und kostet 26,95 Euro.