Als Gitarrist, Gitarrenlehrer und Popmusikforscher greife ich bei meiner Arbeit instinktiv auf einen Fundus von historischen Einspielungen zurück. Darunter sind musikhistorisch bedeutende und einflussreiche Aufnahmen, kommerziell besonders erfolgreiche, viele davon haben methodisch-didaktisch oder instrumentaltechnisch interessante Passagen, waren zur Entstehungszeit innovativ, manche erzielen mit geringen Mitteln erstaunliche Effekte, definieren exemplarisch eine Epoche, einen Musikstil, einen Spielstil, einen Personalstil, einen Sound. Auf der anderen Seite sind auch persönliche Lieblinge darunter, Passagen, die man einfach gerne hört, übt, spielt, interpretiert und im Unterricht an interessierte Schüler und Studenten weitergibt. Über die Jahre entwickelt sich so eine Sammlung, darin enthalten u.a. die eigene „Bag of Licks“, die melodisch/rhythmisch/harmonischen Passagen aus Intros, Hooks, Riffs, Licks etc., die man instinktiv in den Fingern hat. Es sind die musikalischen Einflüsse auf die man sich im Laufe eines Musikerlebens bezieht, die man abgehört, eigenübt hat, die man versteht, übernimmt, ins eigene Spiel integriert, dann variiert, verändert, auf den Kopf dreht, entstellt, dekonstruiert, neu erfindet usw.
Jeder Musiker, Lehrer und Forscher hat so einen mehr oder weniger individuellen musikalischen Bezugsrahmen auf dessen Grundlage er/sie arbeitet, auf dessen Basis musiziert, komponiert, produziert, unterrichtet, gelehrt und/oder geforscht wird. Man könnte auch von einem persönlichen Kanon oder Traditionsstrom (nach dem Kulturwissenschaftler Jan Assmann) sprechen. Dieser bleibt allerdings selten unverändert. Mit der Zeit wirken alte Einspielungen unmodern und überkommen, werden uninteressant, geraten in Vergessenheit, verlieren ihre Bedeutung, neue, neu- oder wiederentdeckte Einspielungen kommen hinzu, ersetzten, ergänzen und überlagern den alten Fundus. Im Laufe eines Lebens stabilisiert sich der persönliche Kanon meist immer mehr, es fällt immer schwerer Veränderungen vorzunehmen. Mit Musik- und Arbeitskollegen hat man sich meist unterbewusst auf diesbezügliche Gemeinsamkeiten geeinigt, im besten Fall gibt es eine Schnittmenge. Falls es die nicht gibt, ist eine Zusammenarbeit, eine Jamsession, eine Musikproduktion, ein gemeinsamer Artikel oft anstrengend bis unmöglich. Man geht von verschiedenen Vorstellungen aus, kommt nicht auf einen gemeinsamen Nenner, zieht einander widersprechende Schlüsse. Weiterlesen →